Incredible India

Incredible India
In der Ferne – wie aus dem Jenseits – hört man leises Trommeln. Auf der Suche nach Erlösung nehmen in Varanasi täglich bis zu 70. 000 Menschen ihr rituelles Bad. Im heiligen Fluss Ganges. Für den Indien-Reisenden bieten sich beklemmende, gespenstisch schöne Eindrücke.

Make in India! – die Initiative des neuen Premiers Narenda Modi, die vor Kurzem in Mumbai präsentiert wurde, lässt auch in Europa aufhorchen. Durch Bekämpfung der zur Tradition gewordenen Korruption, durch Abbau bürokratischer Hürden und das Geschenk radikal gesenkter Steuern will man ausländische Investoren auf den Subkontinent locken. Weltweit sind Wirtschaftsforscher überzeugt – nach Jahren der Stagnation ist Indien wieder auf dem Weg zur Weltmacht. Incredible India!, das Land der Gegensätze. Während in der Megametropole Mumbai fieberhaft am Wirtschaftsaufschwung gearbeitet wird, pilgern weiterhin Jahr für Jahr Millionen Hindus auf der Suche nach Erlösung zum rituellen Bad im Ganges. In die heiligste Stadt des Landes im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh. Nach Varanasi. Und wer als Tourist nach Indien kommt, sollte nicht nur Taj Mahal und Maharadscha-Paläste, die Luxusressorts am Fuße des Himalaya und Keralas Traumstrände besuchen, sollte nicht nur versuchen durch Ayurveda-Anwendungen die innere Mitte zu finden, sondern auch hierher reisen. Um Indien pur zu erleben. Am Ganges. In Varanasi, der wahrscheinlich schmutzigsten Stadt der Welt.

Vor Sonnenaufgang. Es ist halb fünf Uhr früh. Kleine, glosende Feuerstellen tauchen die verfallenen Häuser links und rechts der dunklen, schmalen Straße in einen fahlen Schimmer. Noch verriegeln Bretter die Verkaufsbuden und Werkstätten, schlafen die ausgemergelten Rikscha-Fahrer in fast artistisch verrenkter Haltung auf ihren Gefährten. Halb verhungerte Bettler in zerfetzten Schlafsäcken und ein Rudel räudiger Hunde haben sich zwischen Häusernischen ein wärmendes Nest für die Nacht gebaut. Über Varanasi, das heute auch Benares genannt wird, schwebt ein fauliger, leicht süßlicher Geruch. In der Ferne – wie aus dem Jenseits – hört man leises Trommeln. Mit zufriedenen Gesichtern eilen Menschen zielsicher durch die staubigen Straßen, gläubige Hindus am Weg zum Fluss. Über mehr als 80 Ghats, die Treppen, die steil zum Wasser hinunterführen. Zur Mutter aller Flüsse, den Ganges. Noch liegt eine friedliche Stimmung über dem mächtigen Strom. Bald werden die rituellen Waschungen der Pilgermassen, die aus dem ganzen Land hierhergekommen sind, beginnen.

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Schaurige Szenen: Der Körper einer männlichen Leiche treibt im Ganges. Vielleicht ein Heiliger, der feierlich beigesetzt wurde, oder ein Mann, der wegen eines Schlangenbisses starb. Beiden wird die Ehre zuteil, im Ganges bestattet zu werden.

Rajoo, ein hagerer, älterer Mann in gelbem Lendenschurz, begrüßt mich lachend. In seinem wackeligen Holzboot führt er Touristen vom Munsi Ghat vorbei an all den alten, lange verfallenen Palästen und Tempelanlagen am Fluss bis hin zum Manikarnika Ghat – dem Platz, an dem die Verstorbenen auf Scheiterhaufen verbrannt werden. Je reicher die Familie, desto edler ist das Holz. Auf den Treppen hinunter zum Ganges ein einzigartiges Bild: Spielende Kinder, meditierende Mönche – verklärt zum Himmel blickende Sadhus im Lotossitz –, und all die Menschen in ihren farbenfrohen Gewändern, die sich zum Zelebrieren der rituellen Waschung eingefunden haben. Dazwischen steht regungslos ein Heiligtum – eine Kuh. Gespenstisch schöne Bilder, unbeschreiblich bewegende, beklemmende – aber auch faszinierende Eindrücke. Bleibende Erinnerungen, auch für Menschen wie mich, für die Religion nichts Magisches hat. Menschen eilen zum Fluss und vertreiben so den Tod, erklärt mir mein Bootsführer Rajoo. Bereits Beatle George Harrison, dessen Asche einen Monat nach seinem Tod am 29. November 2000 in Varanasi in den Ganges gestreut wurde, singt in „I me mine“: Jeder sorgt sich um das Sterben, aber der Sinn des Todes ist die Geburt. Wenn du also nicht sterben willst, wirst du nicht geboren. Tagetes-Blüten, die einst die Körper der Toten schmückten, werden ans Ufer gespült, Hunderte leuchtende Kerzenschalen schaukeln in Erinnerung an Verstorbene auf den nebelig dampfenden Wellen. Rajoo erzählt die Geschichte von einem Pilger aus Bombay, heute Mumbai, der zum Sterben hierher gekommen ist. Begleitet von seinem ältesten Sohn, der den Scheiterhaufen entzünden musste. Der alte Mann lebte noch drei Jahre in einem Sterbehaus und sein Sohn blieb in Varanasi, um sich intensiv mit den Lehren des Hinduismus auseinander zu setzen.

Eine Stadt des Lebens und Sterbens: Die Jungen kommen, um zu lernen, die Alten, um zu sterben. Ein Ritual, das man seit vielen Jahrhunderten pflegt. Am Dasashvamedha Ghat verfolge ich den Ansturm auf den heiligen Fluss. Bettler, Brahmanen, schreiende Händler, Saris waschende Frauen, Zähne putzende Kinder und Müll fressende Wasserbüffel, Asketen, Pilger und ein paar Alt-Hippies aus der westlichen Welt. Alle drängen die breiten Stufen zum Wasser hinunter. Zum reinigenden Bad im heiligen Fluss. Wenige Meter vor mir treibt jetzt der Körper einer männlichen Leiche vorbei. Entweder ein Heiliger, der vor Tagen in der Mitte des Flusses mit einem Stein um den Hals feierlich beigesetzt und nun durch die Untiefen des Flusses von seiner steinernen Last befreit wurde, oder ein Mann, der wegen eines Schlangenbisses starb. Beiden wird die Ehre zuteil – ebenso wie Kindern und schwangeren Frauen – nicht am Scheiterhaufen verbrannt zu werden, sondern direkt im Ganges bestattet zu werden. Schaurige Bilder an einem Ort, der jetzt im Zwielicht des frühen Abends noch gespenstischer wirkt. Fast beängstigende Eindrücke am größten Wassergrab der Welt. Der Schriftsteller Cees Nooteboom meinte an diesen letzten Stufen des Lebens, den Treppen zur Verbrennung: Es ist etwas Demütigendes an der Rolle des Zuschauers, weil man, gerade dadurch, dass man etwas sieht, mit solcher Macht davon getrennt wird. Doch gläubige Hindus wollen Zeit ihres irdischen Lebens nur eines, kurz vor ihrem Ableben den Ganges und im Glücksfall die heiligste aller Pilgerstätte, Varanasi, erreichen. Kashi, die Stadt des Lichts, wie man sie einst nannte, gibt all jenen, die hier sterben können, die Gewissheit, dass ihre Seele geradewegs in den Himmel kommt und damit der Kreislauf von Tod und Wiedergeburt beendet wird. Ich werde all das hier, diese schaurige, seltsame Welt des Lebens und Sterbens nie verstehen. Doch die Momente am Ganges haben in mir eine Sehnsucht nach Indien geweckt. Ich werde wiederkommen. Und lange bevor dieses incredible India auf dem Weg zur Weltmacht war, meinte Hermann Hesse: Wer einmal nicht nur mit den Augen, sondern mit der Seele in Indien gewesen ist, dem bleibt es ein Heimatland.

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