Glockenspiel in Krems: Die letzten Glöckner Österreichs

Die Glöckner (v. l.): Hans Dunst, Wolfgang Steinschorn und Ernst Jurca (Nicht im Bild: Markus Killer, der vierte im Bunde)
Seit 39 Jahren bringen sie die fünf Tonnen Bronze der Kremser Piaristenglocke zum Klingen. Von Manfred Horvath

Es ist Ostersonntag.  Eine Stunde vor der Messe. Die  Glöckner treffen einander in der am höchsten Hügel gelegenen Kirche in Krems. Wolfgang Steinschorn steckt einen schweren Bartschlüssel an und sperrt das dicke, eisenbeschlagene Turm-Portal des Piaristenturmes auf. Wir schlüpfen hinein und ziehen die Köpfe ein. Beim Aufstieg zur Glocke durch die engen Serpentinen des Turmes heißt es Ellenbogen anlegen und bewusst auftreten. Ein paar Windungen von Steinstufen mit unreglmäßigen Höhen fordern Konzentration.     Durch enge Fenster-Schlitze sieht man immer wieder auf die Altstadt hinunter. Mit jedem Fenster wird der Blickwinkel auf die Dachlandschaft steiler. Wir nähern uns der Vogelperspektive. Hinter der Stadt windet sich die Donau im Felsenbett der Wachau. Wir steigen wortlos und schnaufen.

Glockenspiel in Krems: Die letzten Glöckner Österreichs

Am Ostersonntag schwingt das Joch der fünf Tonnen schweren Piaristenglocke bis an die Decke des Turmes

 

Das Liebespaar Moni und Tom

Ein herabhängendes Seil kündigt die Turmetage mit dem Geläut an. Noch eine Treppenwindung – da hängt die Piaristenglocke  mit ihren  fünf Tonnen Bronze. Der Klöppel kommt mannshoch aus ihrer Mitte,   grob geschmiedet, mit sichtbaren Hammerschlägen. Ein  Seil ist zweifach um ihn geschlungen und mit dem Dachgebälk verzurrt.  Man sieht  Heiligenbilder und Inschriften in Latein auf dem Glockenmantel, die aus der Gießerei stammen. Eilig gemalte Herzerln mit Pfeilen und  Initialien der Paare mischen sich mit den irdenen Ornamenten.  Manchmal liest man ausgeschriebene Namen in Form von Kerben, Kratzern und Kalligraphie. „Moni + Tom“ waren 1962 da.
Die Glöckner nehmen den alten, vertrockneten Palmbuschen vom Joch ab. Ein neuer, geweihter Bund aus Ölweide wird angebracht. Wie jedes Jahr. „Geh ma rauf, ins Kammerl – es is no Zeit bis zum Läuten“, sagt Ernst Jurca mit druckloser Stimme, ganz außer Atem. „Die Kirche gehört den Piaristen, aber der Turm mit der Glocke der Stadtgemeinde Krems“, erzählt Wolfgang Steinschorn, als wir beim Tisch der luftigen Turmstube sitzen. Wie es sich für einen Feiertag in der Wachau gehört, wird Marillennektar aufgespritzt. Eine gute Flasche Smaragd wäre wohl angebracht, aber beim Läuten herrschen 0,0 Promille.

Glockenspiel in Krems: Die letzten Glöckner Österreichs

Die Glöckner Hans Dunst und Wolfgang Steinschorn befreien den festgeseilten Klöppel vor dem Läutgang

 

In der Kammer des  Turmwächters

Bis 1976 war der Turm durchgehend bewohnt. Vom Feuerwächter, der von hier oben über die Bürger gewacht hat und jeden Rauch mit Läuten der kleinen Stundenglocke gemeldet hat. Das Wohnen im zugigen Turm, auf so kleiner Fläche und so vielen Stiegen war extrem.  Mit aufgeteilten winzigen Stauräumen und Kleiderkästen auf den verschiedenen Etagen, einem simplen WC und einem Heizkessel mit Lavoir als Waschmöglichkeit. Wo die Männer jetzt sitzen, war das Bett. Der einzige beheizbare Raum.  „Der Turmwächter Turner war ein lustiger Typ. Er hat runtergerufen, wenn er Touristen gesehen hat. Er hat ihnen geschrien, sie sollen raufkommen wegen der guten Aussicht. Er war leutselig. Und schlecht bezahlt. Von den Besuchern hat er ein paar Schilling bekommen. Seine Frau hat den Korb samt Einkaufsliste vom Fenster runtergelassen. Wir Kinder sind dann zum Greißler ums Eck und haben ihr den vollen Korb wieder angehängt. Alles ohne Geld. Es ist aufgeschrieben worden im Geschäft“,  sagt Wolfgang und streicht über das Plastik-Tischtuch. Er steht auf und geht drei Schritte zum Ausguck der Turmstube. Die Fensteröffnung ist mitten im Ziffernblatt der Turmuhr. Er blickt beim Stunden-Zeiger vorbei, hinunter auf die Stadtpfarrkirche. „Da bin ich aufgewachsen“, sagt er, „am Frauenberg“.
 An der Routine des Arbeitsablaufes sieht man, dass die  vier Glöckner schon seit 39 Jahren ein eingespieltes Team sind. Jeder nimmt seine Position ein.
 

Glockenspiel in Krems: Die letzten Glöckner Österreichs

Die Aufhängung der Glocke in Form von Menschenköpfen auf der Haube der Glocke

 

Mit Lasso zum Läuten

Die Männer, allesamt schon in Pension,  bringen mit viel Muskelschmalz die Glocke von ihrer Ruhe ins Schwingen. Flink wie Lasso-Kid löst der 75-jährige Hans Dunst den Seilschlag um den Klöppel und gibt das Geläut frei. Das Joch pendelt ächzend aus. Die Decke der Turmstube hat Druckspuren im Verputz vom Anschlag des Hebels, der am Joch befestigt ist.  Als der Klöppel anschlägt, geht der Klang durch Mark und Bein. Die Schwingung ist in der Magengrube spürbar. Die Männer versinken in einen eigenen Duktus von Aufschauen, Blicken, Zunicken und dem ständigen Auf und Nieder der Rücken. Jeder hat seinen eigenen Stil. Becken- oder schulterbetont.
Die anderen Glocken der Stadt sind nur solange zu hören, bis die Piaristenglocke einsetzt. Dann steht man in einer Klangblase bis zum letzten Schlag. Wolfgang gibt mit einer wischenden Handbewegung im Gesichtsfeld von Hans den Einsatz zum  Abbremsen des Klöppels. Hans, der Fänger, hechtet dem Klöppel entgegen und legt das Seil mit zwei Würfen um ihn herum. Die beiden Bremser Wolfgang und Ernst legen ihre Seile geschwind um den Steher des Glockenstuhles. Jetzt ist Obacht auf die Finger angesagt, denn die Seile müssen durch Reibung tausende Kilo Kraft vernichten.  Es kracht und knarrt. Durch das Abbremsen wird das unschöne Nachschlagen des Klöppels vermieden, das als Nachbimmeln verpönt ist bei erfahrenen Läutern.

Glockenspiel in Krems: Die letzten Glöckner Österreichs

Das Fenster der Turmstube befindet sich mitten in der Turmuhr der Piaristenkirche. Daneben sieht man eine ausgediente, lederne Klöppelaufhängung

 

Sie sind die letzten

Wolfgang Steinschorn und seine Kollegen Hans, Ernst und Markus sind die letzten Glöckner Österreichs, die so eine mächtige Glocke wie in Krems regelmäßig läuten. Wohl wird es Filialkirchen oder Kapellen am Land geben, an welchen sich die Umstellung auf automatischen Betrieb und die Ausstattung mit Lautsprechern nicht auszahlt und noch immer fleißig gebimmelt wird.  Aber fünf Tonnen fünf Mal im Jahr in Gang zu bringen – und jedesmal wieder abzubremsen, ist die hohe Kunst des Läutens und findet nur mehr in Krems statt. Es wird zu den Anlässen: Ostersonntag, Fronleichnam, Weihnachten (24. und 25.12) und am letzten Tag des Jahres geläutet. Durch die spezielle Konstellation mit einem Glockenturm in Besitz der Stadtgemeinde und der dazugehörigen Kirche in Händen der Piaristen-Padres werden die Glöckner nur zu diesen Zeiten  quasi engagiert.
Ab dem Gloria des Abendgottesdienstes am Gründonnerstag bis zur Auferstehungsfeier in der Osternacht sind alle Glocken der Welt in Rom versammelt und die Glöckner, Läuter, Bimmler und Glockenspieler arbeitslos. Der Verzicht auf Glocken und Orgel wird als das Fasten der Ohren gesehen. Das Verhüllen von Kreuzen und Bildern gehört zum Fasten der Augen. Neben dem körperlichen Fasten durch reduzierte Nahrungsaufnahme wollen die Katholiken sich dadurch auf das Wesentliche im Glauben konzentrieren.  Ob die Glocken während ihrer Zeit im Vatikan Kraft tanken, beichten oder schlicht serviciert werden, darüber ist sich der Volksglaube uneinig.

Wann Glocken läuten

Der Klang der Glocken gehört zum akustischen Erleben des ganzen Landes. Der erste Einsatz des Tages ist um 6 Uhr morgens. Um 12 Uhr folgt das Mittagsläuten. Um 20 Uhr erinnert das Angelusläuten an das Ende des Arbeitstages. Jeden Freitag, um 15 Uhr, zur Todesstunde von Jesus, erklingen nach altem Brauch die Glocken. Auch zehn Minuten vor dem Gottesdienst, während der Wandlung, an Feiertagen, bei Prozessionen, beim Tod eines Pfarrangehörigen und zu Silvester läuten sie.
Friedrich Schiller erzählt in seinem Gedicht:  „Lied von der Glocke“ wie der Klang der Glocken das Leben von der Wiege bis zur Bahre begleitet. Es ist das meistzitierte und parodierte lyrische Werk des deutschen Bildungskanons. Manche Vorarlberger Gemeinden läuten zu Mittag die Hauptglocke drei Minuten lang, wenn es eine Geburt zu vermelden gibt. Die Ankunft eines neuen Erdenbürgers wird so an die große Glocke gehängt. In manchen Kirchen gibt es eigene Taufglocken. Die Hochzeitsglocken erklingen beim Ein- und Auszug in die Kirche. Wann, wie lange und wie oft geläutet wird, war bis zum Zweiten Weltkrieg in der Läuteordnung festgelegt. Erst durch das Verschwinden vieler Glocken, weil sie eingeschmolzen wurden, um aus ihnen Waffen zu machen, ist diese Ordnung durcheinandergeraten.

Glockenspiel in Krems: Die letzten Glöckner Österreichs

Wolfgang Steinschorn bringt mit seinen Kollegen bei jedem Glockenläuten das Gewicht von fünf Tonnen in Schwung

 

Gießen für den perfekten Klang


Das Gießen einer hochwertigen Glocke mit reinem Klang braucht viel Erfahrung. In der Glockengießrei Grassmayr in Innsbruck wird am Morgen, bevor die Glocke gegossen wird, traditionell ein Gebet gesprochen. Die Männer stehen dann mit ihren silberglänzenden hitzeabweisenden Arbeitsmänteln und senken die behelmten Köpfe zu Boden. Es gibt im Betrieb, der schon eine Tradition von über 400 Jahren hat, einen Archiv-Raum mit Modeln von Heiligen, die für die Ornamentik der Glocke verwendet werden. Wie der Klang ausfällt, kann nicht mit absoluter Sicherheit vorausgesagt werden. Die Tonqualität hängt mit dem Wetter zusammen. Wenn eine Glocke gegossen wird, soll die Sonne nicht scheinen, es soll aber auch nicht regnen.  Für den perfekten Klang einer Glocke ist ein meteorologischer Faktor ausschlaggebend: die Luftfeuchtigkeit.

„Guat is gangen“


Wolfgang Steinschorn ist am Ostersonntag der Letzte, der den Kirchturm verlässt. Die Glöckner wünschen einander  zum Abschied ein Frohes Fest.  Dann geht er über eine Treppe in die höchste Etage und setzt sich auf den Holzbalkon. Unten gehen die letzten Kirchenbesucher am dicken Wacholderbaum vor dem Kreuzweg vorbei. „Guat is gangen, heute, zu Fronleichnam läut´ma wieder,“ sagt er, und blickt zur Donau hinüber.

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