Seilers Gehen: Das historische Gewissen der Stadt wecken

Seilers Gehen: Das historische Gewissen der Stadt wecken
Seilerstätte – Stubenbastei – Dr. Karl Lueger-Platz – Stubenring – Hintere Zollamtsstrasse – Radetzkystrasse – Franzensbrücke – Vivariamstrasse – Sportklubstrasse – Laufbergergasse – Böcklinstrasse – Kurzbauergasse: 3.600 Schritte

Die Stadt ist voller Kunst. An der Ecke Seilerstätte-Weihburggasse hat gerade der famose Bildhauer Peter Sandbichler eine Ausstellung in der dort domizilierten Galerie Thoman.

Sandbichlers Exponate sind nicht unbedingt kleinteilig. Man kann sie durch die großen Schaufenster gut betrachten, falls man das Betreten der Galerie scheut. Vor allem die beiden Holzobjekte, die in der Mitte des Raums platziert sind, haben es mir angetan. Sie greifen die Formensprache von Knochen auf und übersetzen sie in eine fast schon abstrakte Dimension. Ich stehe vor dem Fenster und betrachte sie aufmerksam. Sie verströmen einen starken, poetischen Zauber. Ihr Anblick weckt den Wunsch, wieder und wieder hierher zurückzukehren.

Ich gehe hinüber zum Dr. Karl-Lueger-Platz. Sobald es aufklart, versammeln sich vor dem Denkmal die Müßiggänger, im Frühling in der Sonne, im Sommer im Schatten der großen Platane. Das Denkmal für Bürgermeister Lueger, dessen antisemitisches Wirken den jungen Hitler stark beeinflusst hat, ist beschmiert. In verschiedenen Farben trägt es den Schriftzug „Schande“. Ich setze mich zu den Müßiggängern und betrachte das umstrittene Denkmal. Ein bärtiger Mann im Gehrock. Beim Nachdenken über die Bedeutung von Gedenkstätten entstand vor einigen Jahren das Projekt, das Denkmal nicht etwa zu stürzen oder zu entfernen, sondern es leicht aus der Balance zu heben, schief zu stellen, und damit auf die vielschichtige Bedeutung des Platzes und des Honoratioren hinzuweisen.

Das Gewissen der Stadt

Es kam nicht zur Verwirklichung, was ich bedaure. Die bunten „Schande“-Schriftzüge sind das Ergebnis von künstlerisch-politischer Selbstjustiz, der sowohl Legitimität als auch Dauer fehlen. Aber eines kann man ihnen nicht absprechen: Sie erfüllen ihren Zweck: Sie regen zum Nachdenken nach, wecken das historische Gewissen der Stadt.

Ich gehe hinüber Richtung Prater, es wird schon dämmrig. Ich streife zwischen Donaukanal und der Rustenschacherallee durch die Gassen, und plötzlich stehe ich vor dem Haus mit den großen Augen. Die Augen, das sind riesige Fenster, die vom Erdgeschoss bis unter das Dach reichen und warm beleuchtet sind. Das mit Licht erfüllte Haus ist eines der Bildhauerateliers der Akademie der Bildenden Künste. Hier wird Kunst gelehrt, Handwerk unterrichtet, Inspiration vermittelt. Hier lernen junge Menschen, wie sie uns eines Tages mit ihren in Bilder oder Objekte umgesetzten Ideen entzücken, verzaubern, verstören können.

Die Stadt ist voller Kunst. An manchen Orten dient diese Kunst der Dekoration, an anderen der Behübschung, an vielen der Erinnerung. Dort, wo sie besonders gut gelingt, fügt diese Kunst unserem Denken und Fühlen etwas Existenzielles hinzu, wie etwa Rachel Whitereads „Mahnmal für die 65.000 ermordeten österreichischen Juden und Jüdinnen der Schoah“ am Judenplatz.

Ich stehe vor dem Haus mit den großen Augen und spüre eine unbestimmte Sehnsucht nach all dem, was gestaltet, gehauen, geformt werden wird. Das Licht in diesem Raum ist das Material, aus dem die Gefühle von morgen gemacht werden.

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