Christian Seilers Gehen: Der Soul und die Stadt, die von innen heraus leuchtet
Heute gehe ich nirgendwo hin, heute lasse ich mich treiben. Im Kopfhörer habe ich das neue Album „Not Your Muse“ von Celeste, und ich gebe mich ihrem eleganten, herzlichen Soul ganz hin.
Celeste singt davon, wie merkwürdig es ist, dass Fremde zu Freunden, Freunde zu Liebenden werden – und dann wieder zu Fremden („Strange“). Ich bin erstaunt und berührt davon, wie einfach das Feuer und die Vergänglichkeit von Freundschaft und Partnerschaft in ein paar Liedzeilen gepackt werden können (wenn es die richtigen Liedzeilen sind), und ich gehe geradeaus, und dann biege ich ab, und ohne ein Ziel gehabt zu haben, bin ich quer durch den gerade sehr melancholischen Wurstelprater und das Stuwerviertel gegangen und merke, dass der Vorgartenmarkt gleich um die Ecke ist.
Also zögere ich nicht und hole mir beim Bio-Martin, diesem verlässlichen Lieferanten des wunderbaren, italienischen Bittergemüses, zwei Stauden Puntarelle, die ich einmal zu Salat und einmal zu einer Pastasauce verarbeiten werde. Ich nehme auch eine Cedro, eine Zitratzitrone mit, die ich mit der Wurstmaschine hauchdünn aufzuschneiden gedenke. Mit bestem Olivenöl, Salz und Pfeffer ergibt das einen aromatischen, erfrischenden Salat, eine Ahnung von Süden im Winter, ein Lichtstrahl in der Dunkelheit.
Celeste singt davon, dass sie nicht die ideale Frau sein mag, und ich merke, wie ich meine Schritte dem Rhythmus der herzergreifenden Ballade anpasse. Meine Schritte tragen mich zum Praterstern und von dort hinüber zum Karmelitermarkt, der seit neuestem nicht mehr eine reine Samstagsdestination für mich ist, wenn die Slow-Food-Marktführer besten Käse, Saiblinge aus der Ramsau, Gemüse aus Göllersdorf und anthroposophischen Honig verkaufen.
In einem ehemaligen Feinkost-Standl ist ein Fischgeschäft eingezogen, wo es endlich Meeresfisch in bester Qualität zu kaufen gibt, auch unter der Woche. Außerdem kann man köstliche Gabelbissen und Bouillabaisse mitnehmen, die der Koch Peter Zinter zubereitet, an dem wir, wenn die Wirtshäuser wieder aufsperren, noch unsere Freude haben werden am Karmelitermarkt.
Ich nehme einen Sack Miesmuscheln mit, die ich mit Knoblauch, Ingwer und Weißwein verkochen werde, und obwohl mir die Einschränkungen der Lockdowns, die Verzögerungen bei der Impfstrategie, die Aussicht darauf, auch in den nächsten Monaten keine größeren Reisen antreten zu können, eigentlich die Laune verhageln müssten, fühle ich mich gerade froh, fast leicht.
Celeste singt, dass die Liebe zurück sei, für einen Augenblick, und ich spaziere die Taborstraße entlang, links im Sackerl das Gemüse, rechts die Muscheln, und als ich über die Schwedenbrücke hinüber in den Ersten gehe, glänzt das Wasser, die Marienbrücke ist blau illuminiert, und die Stadt scheint von innen heraus zu leuchten. Ich muss stehen bleiben. Flugzeuge, die es doch noch gibt, haben den Himmel signiert, und Celeste erzählt von einem Kuss, der alles bedeuten kann. Es ist ein leuchtender Moment in der Abenddämmerung, in dem meine Stadt die richtige Antwort auf all die Sehnsucht gibt.
christian.seiler@kurier.at
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