Praterrunde ohne Barolo

Illustration von Alexandra Klobouk
6.800 Schritte: Jesuitenwiese – Wasserwiese – Heustadlwasser

Ich gehe über den breiten Schmutzweg, der die Jesuitenwiese diagonal in riesenhafte Tortenscheiben schneidet, durchquere die Hundezone, wo ich seinerzeit alle Mühe hatte, die grinsenden Doggen und triefenden Boxer und leutseligen Golden Retriever und seriösen Labradore vor meinem Hund Barolo zu beschützen. Der Hund fühlte sich, wenn ich am anderen Ende seiner Leine war, stark wie ein Einsatzpolizist hinter dem Steuerknüppel seines Wasserwerfers. Wobei der Wasserwerfer ich war, und ich gebe zu, dass es auch etwas Erleichterndes hat, die Hundezone zu durchqueren, ohne jeweils im Diskant „Nein, Barolo“, „Komm, Barolo“, „Lass ihn, Barolo“ und „Komm jetzt wirklich, Barolo“ zu schreien.
Von der Hundezone ist es nicht mehr weit zur Wasserwiese, die bekanntlich schon Joseph Roths sentimentale Hauptfigur aus dem „Radetzkymarsch“, Franz-Ferdinand von Trotta, so mochte: „ … die geliebte Wasserwiese im Prater …“
Ich liebe die Wasserwiese auch, und ich liebe das Heustadlwasser, das ich umrunde, in seinem Halbdunkel an den Ufern und dem Farbenspiel auf dem Wasser, bevor ich wieder auf den breiten, majestätischen Waldweg einbiege, der mich zurück zur Jesuitenwiese führt.
Hier gehe ich oft. Ich weiß nicht, ob ich diese Runde schon zweihundert oder vierhundert Mal gegangen bin. Hier gehe ich, wenn ich die Selbstverständlichkeit des Gehens spüren möchte, ohne mich ablenken zu lassen vom Zauber des Neuen am Straßenrand. Hier gehe ich, um den Rhythmus meiner Schritte zu erforschen, um meinen Organismus mit seinen atavistischen Aufgaben auszusöhnen. Hier genieße ich das Privileg, für eine Stunde oder anderthalb aus dem Tagesablauf zu verschwinden und nicht von den Stunden des Arbeitstags befehligt zu werden, sondern umgekehrt: Ich entscheide, ob ich meine Runde noch zum Lusthaus ausdehne oder um den oberen Teil des Heustadlwassers, ob ich mir noch ein paar hundert Schritte gönne, um in meinem Kopf die Musik des Gehens spielen zu lassen, klarerweise ohne Kopfhörer.
Immer kontrolliere ich die Tretboote, die am Heustadlwasser vor Anker liegen, was vor allem bei geschlossener Eisdecke unterhaltsam ist. Ich merke, wie die Tage länger werden. Ich nehme mit Befriedigung zur Kenntnis, dass der Wind es nicht mehr durch die Maschen meiner Wollmütze schafft.
Das klingt nach dem Luxus des Müßiggängers. Ist es nicht. Ich habe mir bloß erlaubt, die Kalenderweisheit des chinesischen Philosophen Laotse ernst zu nehmen, die auf den ersten Blick ein Paradoxon inszeniert: Wenn du es eilig hast, mach einen Umweg.
Oft ziehe ich mir, wenn ich es eilig habe mit einem Text oder einer anderen Aufgabe, die Schuhe an und drehe diese Runde. Sie dauert eine großzügige Stunde. Sie erfrischt mich. Sie lockert mich. Manchmal bin ich so ins Gehen und Denken versunken, dass ich erstaunt bin, wenn ich schon wieder zu Hause vor der Wohnungstür stehe, mit roten Backen und dem Gefühl, etwas wirklich Wichtiges erledigt zu haben: Hab ich. Ich habe mir etwas Gutes getan.

christian.seiler@kurier.at

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