„Neiche Schuach brauch i trotzdem.“
Ich gehe am Bahnhof Wien Mitte vorbei Richtung Innenstadt. An dieser zugigen Ecke zwischen dem Village Cinema und der Mall – bemerken Sie, wie gut man hier Englisch sprechen muss? – ballt sich jeweils der Feierabend- und Freizeitverkehr. Die einen eilen aus dem Büro zur U-Bahn, während die anderen aus der Schnellbahn sprinten, um ihre Kinovorstellung zu erwischen. Die Eifrigen, die Eiligen, die Ungeduldigen treffen auf die Schlenderanten, die Rumsteher, die Dönerverputzer, die Schnell-eine-Zigarette-Raucher und die, die einfach nicht merken, dass sie ihren neuen Double-Size-Flatscreen, den sie sich gerade beim Mediamarkt geholt haben, durch die Menge schieben wie eine Teigspachtel, nur dass der Teig wir sind, alle anderen.
Ich bewundere die Müßiggänger. Wie Monolithen sehen sie dem Geschehen unverzagt zu, oft halten sie Bierdosen wie Ausweise in der Hand. Einer dieser Ruhepole ist ein Herr im Rollstuhl, der seine Bitte um „Unterstützung für einen Invaliden“ mit so schnarrender Marktstandlerstimme vorträgt, dass ich sie erst beim zwanzigsten Mal verstanden habe.
Gleichzeitig redet er mit seinem Kumpel, ebenfalls Rollstuhlfahrer mit Finanzbedarf, tschaunerbühnendeutsch.
Es hat ein paar Grad minus, als sich der Kumpel beim Invaliden – ihm sind unterhalb der Knie die Beine amputiert – über die Kälte beschwert.
„Du hast’s guat. Du hast wenigstens kane kalten Füaß.“
Der Invalide nickt und betrachtet nachdenklich seine Prothesen, die in alten Polyestersneakern stecken.
„Neiche Schuach brauch i trotzdem.“
Ich mag auch die höflichen Punks mit ihren Hunden, die in glasklarem Hochdeutsch um Kleingeld bitten, weiche aber der Verteilerin von Kaugummi mit Wassermelonengeschmack genauso gekonnt aus wie dem Spendenkeiler im Greenpeace-Outfit, der auf mich zuschwankt wie der Typ aus Gangnam-Style und fragt: „Wollen wir tanzen?“
Ich tanze allerdings nur, wenn DJ Walter Gröbchen exakt nach einer Flasche Champagner „Funky Town“ auflegt, nicht aber am Bahnhof Wien Mitte als Einleitung zu einem Verkaufsgespräch.
Wenn ich den Bahnhof also hinter mir gelassen habe, muss ich nur mehr auf die Touristen aufpassen, die mit gezücktem Stadtplan (zu teures Daten-Roaming!) und in Falten gelegter Stirn zum Hundertwasserhaus wollen, aber in die falsche Richtung unterwegs sind.
Dann bin ich schon auf der Weiskirchnerstraße, überquere den Wienfluss, passiere die Haltestelle der Busrundfahrten und treffe, knapp bevor ich an einem Tag und Nacht gut frequentierten Würstelstand vorbeikomme, auf den zurückhaltendsten Schnorrer Wiens.
Er steht da und sagt nichts. Auf eigenwillige Art sieht er gut aus. Er bewegt sich ein bisschen gegen die Kälte, und nur, wenn ich ihm den Euro gebe, den ich im Hosensack gefunden habe, streckt er die Hand aus und sagt „Danke“. „Bitte“ habe ich ihn noch nie sagen hören.
Ich weiß nicht, wie erfolgreich der Mann bei der Arbeit ist. Ich wünsche mir, dass er sein Auskommen hat. Ich habe Respekt.
Dann gehe ich weiter.
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