Die Stille der Berge, hugh!

Illustration von Alexandra Klobouk
8.800 Schritte: Von Zug über die Spullerwaldrunde zum Älpele und zurück

Ich gehe vorbei an einem Schulhaus, hinter dessen knorriger Fassade ein Fine-Dining-Restaurant verborgen ist, sehe langsam den Kirchturm aus dem Blickfeld verschwinden, der das Dorf Zug nur schüchtern überragt. Ich gehe vorbei am Auerhahn, am Haus Walch, am Hartenfels, am wunderschönen Klösterle, dann passiere ich die rot-weiß-rote Schranke, die den unautorisierten Autoverkehr abschneidet, und bin dort, wohin ich mich längst gesehnt habe: in der Stille der Berge, die ich nur mit dem Knirschen der eigenen Schritte auf dem schneeharten Weg unterfüttere.
Ich liebe das Gebirge. Ich liebe die Wetterscharten der Felswände, die Muster, die der Schnee und das Wasser in die Vertikale zeichnen. Ich liebe die verwegenen Ideen, die zwangsläufig einschießen, wenn man durchs Hochtal marschiert und überlegt, wie es da oben wohl sein mag, wo die Sonne alle Farben hinlegt, während es hier unten im Schatten so kalt und feucht ist, dass auf dem signalroten Wanderwegweiser die Hinweise auf die Spullerwaldrunde und zum Gasthaus Älpele von nadeldicken Reifkristallen überwuchert sind.
Ich entscheide mich für die Runde durch den Spullerwald, 4,7 Kilometer, überquere den Lech, der wenig Wasser führt, und gehe an ein paar klobigen Autos vorbei, die hier von anderen, denke ich, Spaziergängern zurückgelassen wurden. Die nahe Langlaufloipe ist verwaist. Ich bin allein, im Schatten der aufragenden Felsen, und finde langsam in meinen Rhythmus, Schritt, Atem, Schritt, Atem, in die „Melodie des Gehens“, wie es der französische Anthropologe David le Breton nennt, und während ich mir gerade die Harmonie des Augenblicks vergegenwärtige, die Balance zwischen Neugierde, Anstrengung und Wohlbefinden, die sich einstellt, wenn ich am richtigen Ort das richtige Tempo gefunden habe, schnarrt mich von links oben eine metallische Stimme an: „Hier wird scharf geschossen!“
Scharf geschossen? Erschrocken bleibe ich stehen, orte den warnenden Jäger in einem gut getarnten Hochstand, wo er, paradoxerweise in eine leuchtfarbene Warnweste geschlagen, hockt und mit seiner Flinte nach oben zeigt, wo die Gams um ihr Leben fürchten muss.
„Das ist doch ein Wanderweg“, sage ich ein bisschen spießig. Aber die Warnweste schlägt nur mit der flachen Hand auf den Schaft ihrer Flinte. Genug gesprochen, hugh.
Die Melodie des Gehens, jetzt dissonant. Ich finde keinen Rhythmus mehr, weil ich einen Gang anschlage wie ein Mensch, der auf keinen Fall mit einem Hirschen oder einer Wildsau verwechselt werden will, hüpf, pfeif, schlender. Immer wieder sehe ich in den Rinnen, die vom Stierlochkopf und dem Unteren Schafberg hinunterziehen, Jäger in ihren Warnwesten stehen, und dann höre ich auch den kurzen Knall der Büchse, der sich in den Hängen des Arlbergs vervielfältigt und die Warnung vom Eingang bestätigt.
Ich gehe weiter, den Lech entlang, bis ich umdrehe.
Vor dem „Älpele“, der Hütte am Lechtalweg, stehen jetzt die Autos mit den definierten Muskeln. Auf einer Ladefläche liegt die Gams, ein Loch im Torso, ein Tannenzweiglein im Maul. Das Vieh ist tot. Die Jäger sind im Wirtshaus. Hier wird scharf gegessen.

christian.seiler@kurier.at

Kommentare