Christian Seilers Gehen: „Kennen Sie sich in Wien aus?“
Ich gehe durch die Innenstadt, oder besser gesagt: ich weiche aus. Wo zu viele Menschen ihren Platz auf dem Trottoir beanspruchen, trete ich zur Seite. Wo das keine Option ist, biege ich ab. In eine Gasse, einen Innenhof, eine Hauseinfahrt. Das ist ein interessantes Spiel. Es hat das Ziel, niemandem näher zu kommen, aber manchmal will das partout nicht gelingen.
„Wohnen Sie hier?“, fragt mich die elegante Dame in der Blutgasse, als ich mich in den Durchgang zu den schönsten Innenhöfen Wiens drücke. Gerade sind keine Touristen da, in deren Reiseführer dieser Geheimtipp vermerkt steht.
„Äh, nein“, sage ich und ziehe meine Maske über Mund und Nase, um den Vorschriften Genüge zu tun.
„Kennen Sie sich in Wien aus?“ Die Dame gibt nicht auf.
„Äh, ja“, murmle ich hinter meiner Maske.
„Wissen Sie, wo die Blutgasse ist?“ Das ist leicht. „Ja. Hier.“
„Wo? Wo hier?“
Ich musste meine Unterhaltung mit der Dame ein bisschen vertiefen, um ihr mitzuteilen, dass sie das, was sie gesucht, schon gefunden hat, was sie erstaunlicherweise nicht mit Befriedigung, sondern mit leiser Enttäuschung erfüllt.
„Und das ist alles?“ Sie deutet auf die barocken Fassaden und die bewachsenen Balkone der wunderschönen, steinalten Miethäuser, über die Menschen, die tatsächlich hier wohnen, zu ihren Wohnungen gehen: die sogenannten Pawlatschen, die so heißen, weil das tschechische Wort pavlač einen offenen Hauseingang bezeichnet.
Das Wort ist gekapert, durchgekaut, angeeignet wie so viele schöne Worte im Wienerischen …
„Äh, ja“, sage ich und fühle mich plötzlich wie der Anwalt der Pawlatschen, die hier nicht die Wertschätzung bekommen, die ihnen zusteht. Soll ich der Dame die Geschichte erzählen, dass die Pawlatschengänge bis ins fortgeschrittene 19. Jahrhundert in ganz Wien in Mode waren, bis sie 1881, nach dem Brand des Ringtheaters verboten wurden? Eigentlich, denke ich mir, sollte sie mir diese Geschichte erzählen.
Sie will aber nichts erzählen. Sie will etwas wissen: „Wieso eigentlich Blutgasse? Das klingt schön brutal! Würden Sie gern an so einer Adresse wohnen?“
Eigentlich ja, sage ich, ich würde sogar sehr gern an so einer Adresse wohnen. Das Blut würde mich nicht stören, das ist schon vor sehr langer Zeit geflossen – wenn überhaupt. Angeblich soll in den Nachbarhäusern geschlachtet worden sein, so dass das Blut der abgestochenen Viecher durch die Gasse rann. Eine andere Legende weiß von Tempelrittern, die 1312 im Fähnrichhof niedergemetzelt worden sein sollen. Dass eine der Geschichten stimmt, ist allerdings nicht verbrieft.
„Nicht einmal das.“ Die Dame nimmt die Erklärung mit einer weiteren, unverhohlenen Enttäuschung zur Kenntnis. Sie hat sich ganz offensichtlich in die Innenstadt aufgemacht, weil die Geisterbahn im Prater geschlossen hat.
Ich habe eine Idee. „Wissen Sie, wo es Ihnen gefallen wird?“
Sie schüttelt den Kopf.
„In der Kapuzinergruft. Lauter tote Fürsten und Kaiser.“
„Aha“, sagt sie mit glänzenden Augen. Dann schaut sie mich plötzlich misstrauisch an: „Wohnen Sie dort?“
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