Bärlauchwanderung in Wien
Ich gehe unter den plumpen Pfeilern der Südosttangente in den östlichen Teil des Praters, dort, wo der Stadtwanderweg 9 tiefer ins Grün und hinüber in die Freudenau führt. Ich bleibe stehen und betrachte dieses Werk der Wiener Stadtregierung – die Tangente, nicht den Stadtwanderweg –, die 1970 einfach par ordre du mufti eine sechsspurige Autobahn durch die Praterauen schlagen konnte.
Von unten sieht die meistbefahrene Straße Österreichs ja auf eigenwillige Weise ästhetisch aus. Ihre Geräusche könnte ein fantasiebegabtes Kind ohne weiteres als das Stöhnen und Seufzen und Rauschen eines angeschossenen Fabelwesens identifizieren, dessen Herz im Takt der ratternden Schwellen rast oder stille, synkopische Aussetzer hat.
Nirgendwo treffen in Wien unterschiedlichere Stimmungen, nur getrennt von vier, fünf Meter Säulenhöhe, aufeinander. Ich kann den Stress der Autofahrer auf der Tangente geradezu spüren, das Hasten, den Ärger über die Trottel, die Spur wechseln ohne zu blinken, das aggressive Resignieren darüber, dass hier wider Erwarten doch ein Stau wie jeden Tag ist, dass sich der nächste Termin nicht ausgeht und das Kind nicht rechtzeitig aus der Schule abgeholt werden kann.
Fünf Meter tiefer das genaue Gegenteil: Hier bewegen wir uns, weil wir dem oben beschworenen Wahnsinn nach Kräften abgeschworen haben. Wir genießen die luftige Lücke im Tag, die Frühlingssonne, die Ruhe (minus das rauschende Klapp-Klapp der Tangente natürlich). Darin besteht übrigens der größte Unterschied: Wenn ich durch den Prater gehe, kann ich mir den Stress auf der Tangente durchaus vergegenwärtigen. Oben, auf der Tangente habe ich kein Sensorium dafür, wie sich die Ruhe da drunten anfühlt.
Ich will aber etwas ganz anderes sagen: Wer, wie ich, nicht dem Stadtwanderweg folgt und geradeaus zur Kleingartensiedlung Sulzwiese weitergeht, wo bald ein provisorisches Straßenschild den Walter-Kern-Weg ankündigt, der kommt in den Genuss der vielleicht intensivsten Bärlauchwanderung Wiens. Hinter den Schrebergärten, auf diesem Weg, der übrigens zu meinen allerliebsten zählt und auf dem ich nicht erst einmal streunenden Rehen samt Familie begegnet bin, tauche ich ein in die Kathedrale der Bäume und Sträucher, die gerade den Saft in die Äste schießen lassen, ihre Knospen dazu drängen, endlich aufzugehen und das hohe Dach zu bilden, das im Sommer für den schönsten Schatten sorgt.
Der Geruch macht sich schon bald bemerkbar. Er ist in dieser Woche bereits deftig und monumental, um ehrlich zu sein sogar ziemlich ordinär, jedenfalls nicht mehr fein und fast schon elegant wie zu Beginn der Saison, wenn die Blätter gerade erst zwei, drei Zentimeter aus der Erde geschossen sind.
Ich schaue links. Ich schaue rechts. Zwischen den Stämmen und Stämmchen hat der Bärlauch sich ausgebreitet wie ein Teppich. Im Frühlingswind winken seine Blätter und signalisieren: Nimm mich mit, nimm mich mit.
Aber ich denke nicht daran. Ich verabscheue Bärlauch. Ich gehe jetzt ins Lusthaus und genehmige mir eine Lusthaustorte.
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