Abstecher ins Gänsehäufel
Ich gehe durch Wiens größte Badeanstalt, mich fröstelt. Ich stecke die Hände in meine Hosentaschen und klappe die Kapuze meines genialen Anoraks hoch, um mich vor dem böig pfeifenden Ostwind zu schützen. Eigentlich wollte ich heute die Alte Donau umrunden, aber ich kann dem Abstecher ins Gänsehäufel nicht widerstehen.
Denn die Alte Donau ist zugefroren. Auf dem Eis tummeln sich ungläubige Spaziergänger, die mit den Sohlen ihrer Moonboots die Eisoberfläche polieren, ein paar Eisläufer, die gegen die vom Wind aufgeraute, grobkörnige Eisoberfläche ankämpfen, versprengte Hundebesitzer, die sich über die Fassungslosigkeit ihrer Viecher amüsieren, wenn der Boden unter ihren Füßen plötzlich nicht mehr haftet. Und ich.
Ich steige also vom gemütlichen Spazierweg „An der unteren Alten Donau“ hinunter aufs Eis und mache mich auf den Weg, quer über diesen kalt schimmernden, ungläubig knarzenden Untergrund, nicht ohne mir vorzustellen, wie es wäre, bei dieser Scheißkälte in Seenot zu geraten. Dabei visiere ich den überdimensionalen Nivea-Ballon an, der am Sandstrand des Gänsehäufels auch bei Minusgraden Wache hält. Das Gänsehäufel ist seit dem Jahr 1907 als „Strandbad der Commune Wien“ in Betrieb, seit 1950 in der heutigen Form: als hochinteressante Kleinstadt für den Sommerbetrieb, nachkriegsoptimistisch geplant von den Architekten Max Fellerer und Eugen Wörle. Das Gänsehäufel bekam nicht nur eine großzügige Infrastruktur, wo man sich umziehen, waschen und bademeistermäßig aufbrezeln konnte, sondern auch abgefahrene Wahrzeichen wie den schlanken Aussichtsturm, um den sich eine Wendeltreppe rankt wie ein seltenes Gewächs, und großzügige, modernistische Terrassen, wo die Gäste ihre Sommerspritzer genießen können. An heißen Sommertagen, wenn das Gänsehäufel voll ausgelastet ist, feiern hier 30.000 Menschen die Sonne, die Wärme und sich selbst.
Jetzt bin ich der einzige Gast. Ich gehe an Land wie Wilhelm, der Eroberer. Das Gänsehäufel ist ungeschminkt und grantig. Die Kabinentrakte, um die im Sommer ein mächtiges G’riß ist, sind feucht und grau. Die Duschen wachsen wie verblühte Blumen aus dem Boden. Tretboote liegen tot auf der braunen Wiese. Die durchnummerierten Kästchen stehen offen. Das gewaltige Wellenbad ist voller Laub. Mutig gehe ich dorthin, wo ich im Sommer nicht stehen kann.
Das Bad strahlt eine merkwürdige, fast beängstigende Ruhe aus. So schweigsam stelle ich mir die Welt am „Day After“ vor. Ich bin dankbar für die Rufe des Raben, der mich wie ein Ersatzbademeister beobachtet und ausschimpft: „Heast Depperter, wos host du do verlorn? Zeig ma amoi dei Eintrittskarten ...“
Aber ich bin noch nicht fertig mit mutig. Weil bevor ich hier wieder verschwinde, probiere ich noch das hinter dichten Zäunen verborgene FKK-Gelände aus. Keine Kleider, keine Fotos, sagt das Piktogramm an der Eingangsschleuse. Hab ich sofort fotografiert. Voll angezogen.
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