Der Bestseller vom Reißbrett: "The Woman in the Window"
Wir erinnern uns. Vor zwanzig Jahren kletterte in den Bestsellerlisten ein bis dato unbekannter Name nach oben, der vor allem durch eines auffiel – die Initialen: J. K. Rowling.
Harry Potter, das literarische Geschöpf dieser Person, hatte zwar keinen leichten Einstand, hob dann aber ordentlich ab. Bis 2015 wurden mehr als 450 Millionen Exemplare der sieben „Harry Potter“-Bände sowie der drei Ableger verkauft. Natürlich war da längst bekannt, dass sich hinter J. K. eine gewisse Joanne K. Rowling verbarg, also eine Frau. Aber weniger bekannt ist, dass die ehemalige Englischlehrerin ihren Namen durch die Initialen ganz bewusst geschlechtsneutral halten sollte. Bloomsbury, ihr Verlag, hatte nämlich befürchtet, dass Buben keine von einer Frau verfassten Abenteuergeschichten lesen würden.
Mit A. J. Finn klettert jetzt ein neuer, mysteriöser Name die Bestsellerlisten hinauf. Das dazu passende Buch nennt sich im gesamten deutschen Sprachraum wie in den USA oder in England „The Woman in the Window“. Der Untertitel, in der jeweiligen Landessprache, deutet auf ein bestimmtes Genre hin: „Was hat sie wirklich gesehen?“ Selbst wer damit nicht von Anfang an Alfred Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ assoziiert, ahnt jedenfalls, dass es hier wohl um ein heimtückisches Verbrechen gehen könnte.
Eine Frau am Fenster. Als Zeugin, als Opfer, als Frau mit dunkler Vergangenheit oder womöglich keiner allzu großen Zukunft? Was die allein in einem teuren Appartementkomplex in Manhattan wohnende
Anna Fox erlebt, jagt die Leser auf knapp 550 Seiten – abgesehen von ein paar Durchhängern – von einem Schockmoment zum nächsten. Zwischen stets zu viel Gläsern Merlot, kurzen Internet-Sitzungen mit ihren Patientinnen – Anna Fox ist Psychotherapeutin – und langen DVD-Nächten mit Film-Noir-Klassikern wie Hitchcocks „Rebecca“ sowie dem bereits obsessiven Beobachten ihrer Nachbarn entwickelt sich ein Psychothriller, der wie vor Kurzem „Gone Girl“ oder „Girl on the Train“ geradezu um eine filmische Umsetzung bettelt. Wohl kein Zufall: Die Verfilmung des Dramas der Anna Fox durch das Centfox-Studio war schon fixiert, bevor die Druckerei die ersten Bücher auslieferte. Eine fünffach oscarnominierte Hollywoodschauspielerin steht dafür gerade in New York vor der Kamera: die aparte Amy Adams („American Hustle“, „Her“).
Aber wie heißt der Autor noch einmal? A. J. Finn? Oder ist es gar eine Autorin, immerhin wird die Story um Einsamkeit, Angst und Aufbegehren in „The Woman in the Window“ vorwiegend aus weiblicher Sicht erzählt. Auch in diesem Fall war das Kalkül des Verlages klar: Umfragen und die Statistik zeigen, dass die Mehrzahl der Buchkäufer weiblich ist. Und die greifen eben lieber zu Büchern, die von ihren Geschlechtsgenossinnen geschrieben wurden als von jemandem, der sie sowieso nie ganz verstehen wird – einem Mann. Im Falle von A. J. Finn ist es darüber hinaus sogar noch eine Spur raffinierter. Dieser Autor ist nicht nur ein Mann, der durch die Initialen vortäuscht, dass er auch eine Frau sein könnte, sondern einer, der das Geschäft aus dem Effeff kennt: Hinter dem strategisch gewählten Pseudonym verbirgt sich der gebürtige New Yorker Daniel Mallory, ein erfahrener Literaturagent. Einer wie er weiß am besten, welche Story sich gut verkauft und welche nicht.
Ein Konzept, das voll aufgeht. Als das Buch Anfang des Jahres in den
USA auf den Markt kam, war es seit zwölf Jahren das erste Romandebüt, das sich von Null auf Platz eins der renommierten New York Times-Bestsellerliste setzte. Mit einem The New York Times-Bestseller Nr.1-Sticker ist der Thriller seit Kurzem auch in den österreichischen Buchhandlungen prominent platziert.
Aus dem erwarteten Sturm auf die vorderen Plätze in der Bestsellerliste wurde jedoch vorerst eher ein gemächlicher Spaziergang. Aber das kann ja noch werden. Erst in den nächsten Wochen werden sich Frauen zwischen Zürich, Wien und Berlin mit ihrer nächsten Urlaubslektüre eindecken.
Dem 38-jährigen Autor war neben dem Senkrechtstart in den USA zumindest in Litauen und in Neuseeland das Glück beschert, die Nummer eins zu sein. Zweite Plätze in Großbritannien sowie in Frankreich sind neben Übersetzungen in 39 Sprachen auch nicht zu verachten. Für einen Debütanten ein mehr als respektabler Erfolg. Und Motivation genug, um gleich an einem Nachfolger zu arbeiten. Finn vulgo Mallory: „Mein zweiter Roman spielt in San Francisco und ist wieder ein Psychothriller. Es geht um eine junge Frau, die eine Auftragsbiografie für einen Sterbenden schreiben soll, der einst ein bekannter Krimiautor war.“
Ein bisschen viel
Krimi? Warum nicht. A. J. Finn studierte in North Carolina an der Duke University englische Philologie und dissertierte in Oxford über Patricia Highsmith. Zurück in den USA betreute er als Lektor die eingangs erwähnte J. K. Rowling sowie ihre Kolleginnen Patricia Cornwell und „Twilight“-Schöpferin Stephenie Meyer. Kein Wunder, dass er irgendwann auf die Idee kam, das Handwerk Romanschreiben gleich selber auszuüben.
Aber da ist noch etwas anderes, etwas sehr Persönliches. Mallory: „An meinem Geburtstag vor drei Jahren erfuhr ich, dass ich an einer bipolaren Störung erkrankt war.“ Andere würden an der Diagnose einer manisch-depressiven Erkrankung verzweifeln, nicht so der belesene Krimifan. Nachdem Medikamente und diverse Therapien nicht anschlugen, ging er seinen eigenen Weg. Sein Projekt dazu war eben die Niederschrift eines Romans, in dem die Heldin nicht ganz zufällig depressiv ist – eben „The Woman in the Window“.
Von seinen Ängsten mag A. J. Finn in der Zwischenzeit immer noch nicht vollkommen geheilt sein. Prominent ist er mittlerweile auf jeden Fall. Und zwar bereits fast so berühmt wie seine Literaturagentin Felicity Blunt. Die 37-jährige gebürtige Londonerin und Mitarbeiterin der angesehenen Literaturagentur Curtis Brown ist in ihrer Heimat nicht nur als Schwester von Schauspielerin Emily Blunt („Girl on the Train“), sondern auch als Ehefrau von US-Schauspieler Stanley Tucci („Die Tribute von Panem“) gern gesehener Gast von Society-Sendungen und Kolumnen aller Art. So bekannt möchte Autor Mallory gar nicht sein, wie er selbst sagt: „Ich habe nie den Drang verspürt, berühmt zu sein. Es reicht mir vollkommen, wenn sich in meinem Freundeskreis einige Berühmtheiten finden.
Wie planbar ist ein Bestseller?
10 Wege zum Ruhm
1 „Höre nie auf zu schreiben“, sagt Stephen King, und der muss es wissen, sind doch fast alle seiner Bücher Bestseller. Falls man zwischendurch doch eine Schreibblockade verspürt, hat King ebenso einen Rat parat:
2 „Vertraue darauf, dass es besser wird.“ Das sagt sich natürlich leicht, aber seine Ergüsse zu Papier zu bringen, ist dennoch harte Arbeit, denn:
3 „Schreiben ist Handwerk und eigener Abgrund – und das eine ist ohne das andere nichts.“ Das sagt Bodo Kirchhoff. Der Träger des Deutschen Buchpreises 2016 gibt selbst Schreib-
kurse und weiß: „Schreiben kann jeder, wir lernen es in der Schule, aber in unserer Welt der Bilder und Kürzel bleibt davon oft nicht mehr als ein reines Aufschreiben, das keinen berührt, der es liest.“
4 Man sollte immer ein Notizbuch dabei haben. Ideen kann man sich aber auch auf die Schnelle aufs Handy sprechen.
5 „Schreiben Sie das Buch, das Sie selbst gern lesen möchten“, sagt die Britin Sophie Kinsella („Mini Shophaholic“). Sie schaffte so den Sprung von der Wirtschaftsjournalistin zur Bestsellerautorin.
6 „Der Leser ist wichtiger als Du.“ Was Stephen King damit meint: Seitenweise Selbstbespiegelung taugt nicht immer, wenn Sie nicht gerade Peter Handke heißen.
7 „Jungen Autoren sag’ ich immer: Pro einer geschrie- benen Seite solltet ihr hundert Seiten lesen.“ Ein anregender Tipp der Bestsellerautorin und FREIZEIT-Kolumnistin Vea Kaiser.
8 „Vergessen Sie Genres und suchen Sie Ihre eigene Stimme!“ Sophie Kinsella macht Mut, einfach drauflos zu schreiben.
9 „Behalten Sie für sich, was Sie gerade schreiben.“ Miss Kinsella weiß auch, dass angehende Autoren schon kleine Bemerkungen an ihren Texten zweifeln lassen.
10 Und: Suchen Sie sich einen guten Agenten, der Sie vertritt. Denn die meisten Verlage werden mit Manuskripten zugeschüttet, vor allem mit Krimis.
Eva Rossmann, heimische Krimiautorin Nr. 1, über Spannung vom Reißbrett
„Es gibt Versatzstücke von Romanen, die besser ankommen als andere“, sagt Eva Rossmann. „Identifikationsfiguren sind wichtig sowie die richtige Mischung aus Liebe und Leid.“ Mit „Im Netz“ (Folio Verlag, ab 21. August), einem Krimi rund um Fake, Fakten und Freundschaft, schickt die Autorin und Teilzeitköchin in Manfred Buchingers Gasthaus „Zur Alten Schule“ ihre Heldin Mira Valensky bereits in ihr 20. Abenteuer.
Wie viel strategische Planung fließt da bei der Themenfindung ein? Eva Rossmann: „Null. Ich suche mir ein Thema, das mich selbst interessiert, über das ich mehr wissen möchte. Ich recherchiere und dann erzähle ich darüber. Weil: Abgesehen davon, dass es natürlich schön ist, von vielen Menschen gelesen zu werden: Es geht auch um mein Leben. Ich lebe mit einem Buch ein Jahr, manchmal auch mehrere Jahre. Ich bereite vor, ich schreibe, ich bin auf Lesereisen. Und da will ich mich mit einem Thema beschäftigen, das ich für spannend halte.“
Wie kommt es, dass gerade ein Literaturgenre derartig boomt, in dem es um den Tod geht?
„Kann sein, dass es bei klassischen Thrillern vordergründig um den Tod geht. In meinen Kriminalromanen und vielen anderen Krimis steht aber ohnehin nie der Mord im Mittelpunkt, sondern das Thema oder eine Landschaft und ihre Bewohner. Eigentlich geht es bei den klassischen Kriminalromanen viel mehr ums Überleben als um den Tod, manchmal sogar ums gute Leben. Und natürlich um eine Annäherung an das, was wir Gerechtigkeit nennen.“
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