Es gab Zeiten, da waren Liebesdramen echte Ganztagsjobs.

„Lottteeee!“ Der Sehnsuchtsschrei gellte durch die gesamte Badeanlage. Doch diesmal wählte der junge Werther den Wassertod, Text-Hörigkeit war gestern. Dass er im Sprung seine Badehose verlor und sich aus Rücksicht auf den Blutdruck der Kurgästinnen den Schlussapplaus nicht abholen konnte, gab unserer Literaturveranstaltung im Vöslauer Bad dann noch die richtige Würze. Der Schauspieler Philipp Hochmair hatte mit seiner anarchischen Hochdruck-Energie gezeigt, wie Menschen sich früher aus Liebe freiwillig in die totale Selbstzerstörung begaben. „Vor lauwarm graut mir“, hatte Herr Goethe einmal geseufzt, der sein eigenes Zurückweisungstrauma mit den „Leiden des jungen Werther“ zu lindern versucht hatte. „Eine Köderjause des Satans“, hatte ein zeitgenössischer Rezensent vor der subversiven Kraft des Buches gewarnt. Heute würde ein Liebeskranker à la Werther wahrscheinlich maximal kokett mit einem Buttermesser seine Pulsadern umspielen und dann auf „Facebook“ seinen Relationship-Status ändern. Nach der endgültigen emotionalen Kapitulation ließe er dann vielleicht die existenzielle Großbaustelle beim psychotherapeutischen Service bearbeiten. Oder trinkt einfach nur exzessiv – bis die Seele wieder auf Bereitschaftsmodus für das nächste Abenteuer steht. Während in der Damenabteilung an diesem Abend viel „Ach“ und „Weh“ geseufzt wurde, weil die Herren nicht mehr die Werthersche Leidensfähigkeit zu mobilisieren imstande sind, sprang mein Freund K auf den Tisch und rief in die Nacht hinaus: „Willkommen im Zeitalter der Lebensabschnittspartnerschaften! So a Liebesdrama artet ja doch nur immer in an Ganztagsjob aus, und wer hat dafür bitte heute noch Zeit?“ Vom energie-ökonomischen Standpunkt kann man ihm nur recht geben.

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Polly Adler spendet in „Adieu Fortpflanz“ Trost und Ratlosigkeit von der Erziehungsfront und erzählt, warum man sein Kind zwar immer liebt, aber manchmal dennoch nicht leiden kann.

240 Seiten, 22,95 Euro bei www.thalia.at

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