Wiener Spitäler: "Noch ein Schritt und das System kollabiert"
Seit einigen Wochen sind die Wiener Spitäler an ihrer Belastungsgrenze – ausgelöst durch eine Influenza- und RSV-Welle und einen Mangel an Pflegepersonal. Betten müssen gesperrt werden, andernorts liegen Patienten in Gangbetten, in einem soll eine Patientin sogar verstorben sein.
Der betreffende Arzt will zu den Umständen nicht schweigen und hat dem KURIER vor laufender Kamera aus dem Spitalsalltag (siehe Teaser-Video) erzählt. Aus Angst vor dienstrechtlichen Konsequenzen will er anonym bleiben. Auf Intensivstationen seien Ärzte bereits mit der Triage konfrontiert: Sie müssen entscheiden, wer die nötige Versorgung erhält – und wer nicht.
Dem Wiener Gesundheitsverbund sind derartige Zustände offiziell nicht bekannt, heißt es. Die Patientenversorgung sei gewährleistet. Mit Stand 14. Dezember gab es 5.300 "systematisierte" Betten, die real verfügbare Bettenzahl ist jedoch niedriger: Auf Normalstationen waren gestern 900 Betten gesperrt und 908 frei (exklusive AKH). Auf den Intensivstationen waren 60 Betten gesperrt und eben so viele frei. Im Pflegebereich sind insgesamt 800 Stellen unbesetzt.
Erich M. arbeitet seit 15 Jahren als Arzt auf der Intensivstation eines Gemeindespitals. Momente, die er nicht vergessen könne, gab es in dieser Zeit immer wieder: Die erste Schwangere, die man verliert. Das erste Kind. Noch immer vor Augen habe er auch jene Patientin, die vor rund zwei Wochen in einem Gangbett verstarb.
KURIER: Über die Zuteilung von Intensivbetten wird intensiv diskutiert. Wie funktioniert sie in der Praxis?
Erich M.: Wir melden in der Früh in ein System ein, wie viele freie Betten wir haben. Ein Bettenspiegel zeigt die Kapazitäten, die in ganz Wien zur Verfügung stehen. Ein Bett wird für einen Herzalarm reserviert. In letzter Zeit haben wir aber nicht mal mehr dieses freie Notfallbett.
Was macht man, wenn es dieses eine Bett nicht mehr gibt?
Hoffen, dass wir im Haus keinen Notfall haben und die Rettung keinen Patienten bringt.
Vor welchen Entscheidungen steht man, wenn kein Intensivbett mehr frei ist?
Normalerweise rufen wir in einem anderen Spital an. Das Problem war, dass in der besagten Nacht (in der eine Frau in einem Gangbett starb, Anm.) ganz Wien gesperrt war. Es gab keine freien Intensivbetten. Dann mussten wir alle Patienten durchgehen und entscheiden, wen wir von der Beatmungsmaschine nehmen, wenn es einen Notfall gibt. Das sogenannte Triagieren.
Müssen wieder vermehrt Gangbetten aufgestellt werden?
Gangbetten gab es schon immer, ob man es Überbelag nennt oder Patienten, die man in Badezimmern „versteckt“.
Wie ist das gemeint?
Der Bettenspiegel wird von einer Person für den Wiener Gesundheitsverbund jeden Tag zu einer festen Uhrzeit kontrolliert. Also schiebt man vorher Patienten in ein Badezimmer oder bitten sie, ihr Bett zu verlassen, um es wegzurollen.
So stirbt man: Mit Neonbeleuchtung im Gesicht, einer Person neben sich, die sich über Atemnot beschwert und zwei Ärzten, die sich besprechen.
Welche Patienten liegen in solchen Gangbetten?
Im Normalfall stabile Patienten, die nicht überwacht werden müssen. Im schlimmsten Fall ist es eine Patientin, die am Ende ihres Lebens angekommen sind.
Wie haben Sie die Nacht erlebt, in der die Patientin einem der Gangbetten verstarb?
Ich habe mir gerade einen Patienten im Gangbett neben ihr angesehen, der um Luft gerungen hat. Mein Kollege meinte, dass die Dame gehen darf. Bedeutet: Sie ist am Ende ihres Lebens angekommen. So stirbt man: Mit Neonbeleuchtung im Gesicht, einer Person neben sich, die sich über Atemnot beschwert und zwei Ärzten, die sich besprechen.
Konnten Sie der Patienten irgendwie helfen?
Ich habe versucht, sie auf eine andere Station zu verlegen, wo sie in Ruhe und Frieden sterben kann. Die dortige Pflege meinte aber, sie kommen mit der Situation nicht klar.
Ist die Pflege denn nicht genau dafür ausgebildet?
Auf einer Dermatologie oder HNO hat man mit dem Tod so gut wie nie zu tun.
Das heißt, Pflegepersonal wird auch fachfremd eingesetzt?
Auf der Neurochirurgie wurde der Nachtdienst zum Beispiel von Personen aus der Kinderintensiv oder von Logopäden übernommen. Die haben natürlich nicht die Ausbildung für mögliche Notfälle.
Ist das für Patienten eine Gefahr?
Absolut, das sind diese berühmten Gefährdungsanzeigen. (Zwischen Mai 2021 und April 2022 hat das Personal des Wigev 53 Gefährdungsmeldungen eingebracht, Anm.).
Das zu sagen ist schlimm, aber: Zum Glück sind zwei Personen verstorben. Man zählt die Sekunden - und der Nächste braucht das Bett.
Hat sich die Situation später in der Nacht entspannt?
Nein, am Morgen hat mich eine Kollegin von der anästhetischen Intensiv angerufen, weil wir noch immer kein Intensivbett hatten. Was sollen wir also bei einem Herzalarm tun? Ich hatte 12 intubierte Patienten, konnte niemanden verlegen, außer ich ziehe den Tubus raus. Wir haben vereinbart, im Fall der Fälle jemanden in den Aufwachraum zu legen. Das Problem ist, dort hat man keine für solche Patienten ausgebildete Pflege. Unser Plan B war ein verdammt schlechter.
Mussten Sie dann tatsächlich auf Plan B zurückgreifen?
Das zu sagen, ist schlimm, aber: Wir hatten das Glück, dass zwei Personen gestorben sind. Dann zählt man die Sekunden hinunter. Fünf, vier, drei, zwei, eins – und schon kommt der nächste Patient.
Verlegt man Patienten früher, als man es mit gutem Gewissen vertreten kann?
Zu 100 Prozent. Ein extubierter Patient muss normalerweise 24 Stunden bleiben, weil es sein könnte, dass ich ihn wieder intubieren muss. Weil die Betten so knapp sind, ist er nach 8 bis 12 Stunden weg. Das Glück der Menschen und des Stadtrates (gemeint ist SPÖ-Gesundheitsstadtrat Peter Hacker, Anm.) ist, dass diese Leute es irgendwie noch schaffen. Käme der Patient auf die Intensiv zurück, hätte ich ein Problem. Weil man unfassbar viel Glück hat, ist so etwas aber noch nie passiert.
Weiß die Spitalsleitung über solche Notsituationen Bescheid?
Davon bin ich überzeugt. Offiziell hieß es von der Stadt: Nach Rücksprache gibt es keine Gangbetten oder Tote am Gang, es ist alles in Ordnung. Intern wissen wir, dass es anders ist. Das sehen wir tagtäglich.
Was bedeutet das alles für mich als Patient, wenn ich derzeit akut ins Spital muss?
Dann wünsche ich Ihnen viel Glück, dass genug Ärzte da sind, es keine Rettungssperre gibt und kein Fehler gemacht wird. Dass Sie nicht am Gang liegen und tatsächlich auf der Station landen, auf die Sie gehören.
Denken Sie, dass sich die Lage nach dem Winter wieder entspannt?
Die Situation war immer angespannt, auch vor Corona, aber es war nie so eklatant wie jetzt. Und wenn wieder eine Welle kommt oder irgendwas Neues, dann wird das System kollabieren. Noch ein Schritt, und dann ist es aus.
Ziehen Sie für sich persönlich Konsequenzen nach diesen Erlebnissen?
Ich habe mir das lange angeschaut. Ich dachte auch, dass es nach Corona besser wird. Dem ist nicht so, ganz im Gegenteil. Ich habe entschieden, so bald wie möglich das Gemeindespital zu verlassen und in den niedergelassenen Bereich zu gehen.
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