Wien sperrt auf: Die inszenierte Rückkehr in die Freiheit
Ein Lockdown-Ende gleicht dem anderen – sollte man meinen. Der gestrige Tag der großen Öffnungen in Gastronomie, Sport und Kultur hat das Gegenteil bewiesen.
Als der erste harte Lockdown vor rund einem Jahr zu Ende war, sperrte das Land schlicht und einfach auf. Ohne Spektakel. Dieses Mal nutzte die Politik die Rückkehr in die Freiheit als Foto-Kulisse, Wirte setzten ihre Lokale mit ausgefallenen Ideen in Szene – und die Gäste, die spielten vielerorts bereitwillig mit. Ein Streifzug durch das aufgesperrte Wien.
5.15 Uhr,
Leopoldstadt, Donaukanal
Irgendeiner muss immer der Erste sein. Und weil Philipp Pracser seine Beach Bar „Blumenwiese“ am Donaukanal keine Minute länger als vorgeschrieben zu lassen wollte, macht er den Anfang: Kurz nach 5 Uhr in der Früh startet das „Sunrise-Opening“ mit DJ, Heliumballon-Start – und gehörig Tamtam: „Alles Gastro“, ruft Pracser, als er die Schnur seines Ballons loslässt. „Urgeil“ findet er die Öffnung. Seine 100 Gäste wohl auch. Es wird mehr Bier und Sekt als Kaffee getrunken, dazu Tequila. Wieder im Lokal zu sitzen, das euphorisiert.
Auf der Promenade laufen Jogger an den Feiernden vorbei, eine Radfahrerin klingelt die Menge energisch auseinander. Sport getrieben wird auch andernorts schon: Die Fitnesscenter sind gut besucht, vor manchen stehen die Sportler Schlange, noch bevor sich die Türen öffnen.
7.50 Uhr,
Innere Stadt, Café Landtmann
Im Traditionscafé Landtmann am Universitätsring lebt die Lust am Sehen und Gesehenwerden auf: Auf den Tischen liegen Reservierungskärtchen, auf vielen davon erspäht man bekannte Namen. Die türkise Tourismusministerin Elisabeth Köstinger macht vor dem Ministerrat Fotos mit Landtmann-Chef Berndt Querfeld, im Wintergarten isst ÖVP-Nationalratsabgeordneter Martin Engelberg ein Butterbrot mit Blümchen-Dekor.
Wer dazugehören will, muss erst an der Mitarbeiterin am Eingang vorbei, die einen Corona-Test, ein ärztliches Attest oder einen Impfpass verlangt und die Gäste bittet, sich zu registrieren. Für den Notfall hält man Selbsttests bereit, sagt Querfeld. Gebraucht habe man sie bisher aber nicht: „Das ist gut so. Wir sind ja keine inoffizielle Teststraße.“
Bei den offiziellen Teststraßen im Land machen sich die Öffnungen durchaus bemerkbar: Es sei viel los, erzählt ein Mitarbeiter: „Wir lernen heute ganz neue Leute kennen. Alle, die ins Gasthaus wollen und davor noch nie bei uns waren.“
8.45 Uhr,
Innere Stadt, Café Frauenhuber
Im Café Frauenhuber in der Himmelpfortgasse bekommt der Wiener Wirtschaftskammer-Präsident Walter Ruck – wie wohl viele Wiener um diese Zeit – den ersten Kaffee serviert. Allerdings auch den
falschen. Ärgerlich. Immerhin hat man eine Heerschar an Journalisten hierher beordert. Zum Posieren mit Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) taugt die Melange gerade noch. Trinken will Ruck dann aber doch etwas anderes. Espresso. So wie Ludwig.
Ebenso einig wie beim Kaffee sind sich die beiden dann in ihrer Begeisterung über die Öffnungen: Wieder ins Kaffeehaus gehen zu können, sei „eine große Freude“, betonen sie. Diesen Satz wird man heute noch öfter hören.
10.30 Uhr,
Innere Stadt, Café Alt Wien
FPÖ-Stadtrat Dominik Nepp trinkt sein erstes Bier. Im Café Alt Wien in der Bäckerstraße, mit Vater Fritz und Lokalinhaber Petar Hrtica. „Abseits vom Blitzlichtgewitter“, wie man – in Anspielung auf Ludwig – betont. Ein Pressefoto stellt man dennoch zur Verfügung. Man weiß ja nie.
11.00 Uhr,
Innere Stadt, Hofreitschule
Wer mit dem Fahrrad in der Reitschulgasse unterwegs ist, hört nicht nur eine Musikkapelle, sondern erspäht auch internationale Gäste. Touristen besuchen die erste „Post-Lockdown-Tour“ durch die Hofreitschule – mit ihrer barocken Reithalle und der Stallburg, in der die Lipizzaner eingestellt sind. Auch diese freuen sich über etwas Abwechslung.
11.40 Uhr,
Hietzing, Schönbrunner Bad
Im Schönbrunner Bad ist man trotz verspäteten Saisonstarts nicht ganz vorbereitet: Am Beckenrand werden neue Fliesen verlegt. Sechs Schwimmer ziehen ihre Bahnen. Das Wasser hat 23 Grad und ist wärmer als die Luft.
Die ersten Längen der Saison hat Gesundheits- und Sportstadtrat Peter Hacker (SPÖ) um diese Zeit bereits hinter sich: „Am Ende des Tages bleibt nur eine Frage“, sagt er einem Videoclip, der ihn mit dem neuen 50-Meter-Becken im Stadionbad zeigt. „Wer wird der Erste gewesen sein, der jemals in dieses Becken gesprungen ist?“ Den Sprung sieht man zwar nicht – am Ende des Tages winkt aber Hacker aus dem Becken heraus.
12.19 Uhr,
Simmering, Heurigen-Restaurant
FPÖ-Stadtrat Dominik Nepp trinkt sein zweites Bier. Im Heurigenlokal „Harrys Augustin“ in der Kaiser-Ebersdorfer-Straße – mit FPÖ-Urgestein Paul Stadler und Gemeinderat Toni Mahdalik. Zwar noch mehr abseits vom Medienrummel, aber wieder mit Foto. Ein drittes Bier ist nicht dokumentiert.
12.46 Uhr,
Döbling, Würstelstand
Ulf und Inge feiern beim Würstelstand „Leo“ nahe der Müllverbrennungsanlage Spittelau Inges Corona-Impfung. Mit Gösser aus der Dose und Wieselburger aus der Flasche. Die beiden haben auch im Lockdown jeden Tag vorbeigeschaut. Jetzt dürfen sie dem Standler endlich wieder näher kommen als 50 Meter. Der Standler und seine Gäste verstehen einander: Um Bier nachzubestellen, hebt man nur kurz die Dose.
13.00 Uhr,
Leopoldstadt, Schweizerhaus im Prater
Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) verweigert das „Signature Dish“ des Schweizerhauses: Die Schweinstelze sei ihm „zu schwer“, lässt er die Journalisten bei der Zusammenkunft mit Bundeskanzler Sebastian Kurz, Tourismusministerin Elisabeth Köstinger (beide ÖVP) und der grünen Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer wissen. Der Öffnungstag sei ein „Tag der Freude“, sagen sie. Kanzler Kurz dennoch weiter zur Vorsicht.
Bevor es zu Speis und Trank geht, müssen sich die vier mit Regierungskritikern auseinandersetzen: Nebst kritischen Fragen sind „Kurz muss weg“-Rufe zu hören. Die Polizei bringt zwei Covid-Skeptiker zu Boden, eine amtsbekannte Vertreterin der Protestbewegung versucht, den Auftritt zu stören – erfolglos.
18.00 Uhr,
Neubau, Mariahilfer Straße
In den Lokalen sind viele Stammgäste unterwegs. So wie im engen, schummrigen Café Lambada in der Neubaugasse, in dem eine Gruppe Studenten auf das Lockdown-Ende anstößt. Es wird gelacht und gejubelt. Wer einen Sitzplatz in einem Lokal ergattern kann, hat Glück. Alle anderen drängen sich unter den Schirmen in den Schanigärten. Immer wieder regnet es. Nach Hause geht kaum einer.
19.30 Uhr,
Margareten, Zum alten Fassl
Es gibt nicht viele Wirtshäuser, die sich so für urige Stimmung eignen wie das „Fassl“. Dass wegen der Abstandsregel nur 30 Prozent der Plätze verfügbar sind, tut dem keinen Abbruch. Bestellt werden Gebackenes, Rostbraten und Bier.
Halblautes Stimmengewirr erfüllt den Raum. Größere Gruppen werden streng auf mehrere Tische aufgeteilt. Als die Kellnerin nicht schaut, wechselt der eine oder andere rasch den Platz. Nicht so schlimm. Beim Eingang wird akribisch kontrolliert, auch Schnelltest gibt es.
21.45 Uhr,
Premierenabend in der Kulturszene
Sechs Premieren an einem Abend, das ist für einen Mittwoch etwas Besonderes. Ansonsten fühlt es sich auf den Bühnen Wiens – darunter Schauspielhaus und Akademietheater – an, als hätte es nie einen Lockdown gegeben: Cool, unaufgeregt.
Maske trägt das Publikum, Maske trägt auch der Chor in der Volksoper. Viel Disziplin – und viel Jubel. Mühsam ist für manche das Warten nach Ende der Vorstellung: Das Publikum darf nur Reihe für Reihe den Saal verlassen. Also doch nicht ganz alles wie immer.
Aber immerhin: Diese Inszenierungen sind gelungen.
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