Wie Wahlkampf in Wien vor 100 Jahren aussah

Ein Sujet aus dem Jahr 1932: Der rote Mann wird als ideal-tüchtiger Arbeiter gezeigt, während die Figur der Schwarzen einen kleinen Hakenkreuz-Anstecker trägt.
- Der Wahlkampf 1919 war der erste moderne mit allgemeinem Wahlrecht, geprägt von Plakaten und rauem Ton.
- Die Sozialdemokraten gewannen 1919 mit 54,2% und setzten auf Themen wie Bildung, Wohnen und Gesundheit.
- Professionelle Wahlwerbung und Analysen entwickelten sich, mit prominenter Unterstützung für die Sozialdemokraten.
Ein Wahlkampf prägt auch das Stadtbild: Allerorten gibt es Plakate, Geschenke mit Parteilogos und Kandidaten auf Stimmenfang. Doch wie gestalteten sich Wahlkämpfe vor rund 100 Jahren? Der KURIER blickte mit einem Experten zurück.
Was so mancher heute wohl als Segen bezeichnen würde: Vor 1919 gab es so gut wie keine Wahlplakate. „Zu jener Zeit führte man auch noch keinen Wahlkampf, wie wir ihn heute kennen. Stattdessen gab es Versammlungen“, beschreibt Werner Michael Schwarz, Historiker und Kurator am Wien Museum.
Ab 1919 war dann vieles anders – denn dies war das erste Jahr, in dem ein allgemeines Wahlrecht galt: „Davor durften Frauen gar nicht wählen und Männerstimmen wurden nach Einkommen und Bildung sehr ungleich gewichtet.“
Im Wahlkampf herrschte ein rauer Ton
1919 gab es daher den ersten Wahlkampf modernen Zuschnitts: „Die Stadt war zugepflastert mit Plakaten“, so Schwarz. Die großen Themen waren der Erste Weltkrieg, der noch sehr präsent war, sowie die prekäre Versorgungslage. „Es gab viele gegenseitige Schuldzuweisungen, wer für den Kriegsausbruch verantwortlich war. Insgesamt herrschte ein rauer Ton.“
Thema war übrigens auch, für wen die Frauen stimmen: „Während viele ihnen zuvor quasi die Vernunft zum Wählen abgesprochen haben, warben vor allem Sozialdemokraten und Christlichsoziale um ihre Stimmen“, erklärt der Historiker. Frauen wählten damals übrigens konservativer als Männer.
Als Sieger der Wahl am 4. Mai 1919 gingen schließlich die Sozialdemokraten mit 54,2 Prozent hervor (s. Infobox unten). Übrigens zogen damals auch 22 Frauen in den Gemeinderat ein – ein Anteil von nicht ganz 13 Prozent.
Die großen Themen der Sozialdemokraten
Themen, auf die die Sozialdemokraten zu jener Zeit setzten, waren Bildung, Wohnen und Gesundheit. „Die Wahlergebnisse zeigen, dass goutiert wurde, was im Roten Wien geschah“, so Schwarz.
Was zu den Wahlerfolgen sicherlich beitrug, war, dass die Sozialdemokraten gut organisiert waren und wussten, wie man effektive Werbung gestaltet. „Es gab in späteren Wahlkämpfen sogar zwei abendfüllende Spielfilme mit sozialdemokratischen Inhalten. Vorbild waren Filme aus der Sowjetunion“, so der Historiker.
Generell wurde Wahlwerbung zunehmend professioneller und teils von namhaften Künstlern gestaltet. „Man arbeitete mehr mit Grafiken, Wahlplakate mit Fotos gab es erst in der Zweiten Republik häufiger“, so Schwarz.
Die Wahlergebnisse von 1919: Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) erhielt 54,2 %, die Christlichsozialen 27,1 %, die Partei der sozialistischen und demokratischen
Tschechoslowaken 8,4 % , zwei deutschnationale Listen erhielten gemeinsam 5,2 %, die bürgerlichen Demokraten 2,6 %, die zionistische Jüdischnationale Partei 1,9 %.
Stadt oder Bundesland? Bereits 1920 wurde beschlossen, dass Wien ein eigenes Bundesland werden sollte. In Kraft trat dies schließlich am 1. Jänner 1922.
Die Sozialdemokraten setzten auf eine ausdrucksstarke Bildsprache: Da gab es etwa den muskelbepackten roten Riesen, der sich erfolgreich gegen allerlei Repressionen zur Wehr setzte – „eine Art Superman der Sozialdemokratie“, so Schwarz. Entworfen wurde er bereits 1912 vom Grafiker Mihály Biró, als Symbol für die starke Arbeiterschaft waren derartige Figuren bis in die 1930er-Jahre im Einsatz (s. Bild am Anfang des Artikel).

Eine Werbung für die Errungenschaften des Roten Wien im Bereich Wohnen aus dem Jahr 1932.
Die Wahlanalysen kamen auf
Was in den 1920er-Jahren ebenfalls aufkam, waren Wahlanalysen: „Man begann zu hinterfragen, wer wen warum gewählt hat“, erklärt Schwarz.
In Wien blieben die Sozialdemokraten jedenfalls viele Jahre die bestimmende Kraft. In der Hoffnung, sie schlagen zu können, bildeten die Christlichsozialen 1927 eine Einheitsliste – also ein Wahlbündnis mit anderen Parteien, auch den Nationalsozialisten.
Als Reaktion erschien in der Arbeiter Zeitung vom 20. April 1927 „Eine Kundgebung des geistigen Wien“: Personen aus Wissenschaft und Kultur riefen dazu auf, für die Sozialdemokraten und gegen die Einheitsliste zu stimmen, darunter Sigmund Freud, Hans Kelsen, Alma Mahler oder Franz Werfel. „Es war das erste Mal, dass sich das gebildete, liberale Bürgertum auf diese Weise zu Politik zu Wort meldete“, so Schwarz.
Schließlich gewannen die Sozialdemokraten mit 60,1 Prozent – die Einheitsliste erhielt 36,5 Prozent.
Nach der großen Wirtschaftskrise
Auch in den Nachwehen der Wirtschaftskrise von 1929 blieben die Sozialdemokraten Nummer eins: Bei den Landtagswahlen 1932 (den letzten freien Wahlen vor Hitlers Machtübernahme, Anm.) erreichten sie 59 Prozent, während sich die Christlichsozialen auf 20,2 Prozent halbierten. Auch die NSDAP trat damals an, sie kam auf 17,4 Prozent.
„Ab 1933 gab es keine freien Wahlen mehr, Presse- und Versammlungsfreiheit wurden eingeschränkt. Die Sozialdemokratie wurde scheibchenweise abmontiert, der Schutzbund verboten“, beschreibt Schwarz. Es folgten Ständestaat und Nationalsozialismus.
Nach dem Krieg
Freie Wahlen gab es erst wieder am 25. November 1945. „Die Stadt war wieder voll mit Plakaten. Damals herrschte großer Mangel, teils haben die Alliierten sogar Papier für den Wahlkampf zur Verfügung gestellt“, so Schwarz.
Der Tonfall? „Wieder ziemlich konfrontativ.“ Die SPÖ landete mit 57,18 Prozent deutlich auf dem ersten Platz. Und da blieb sie bis heute.
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