Das Ende von Wien: Warum die Penzinger Peripherie ein Polsterzipfel ist

Das Ende von Scheiblingstein ist der Anfang von Wien. Allerdings nur drüben im Wienerwald (auf der rechten Seite).
Unsere Schlussetappe: Im letzten Eck der Bundeshauptstadt gibt es Wien nur im Wald, ein Landgasthaus und einen Pfeil-und-Bogen-Parcours. Wo jetzt Radler und Biker rasen, verkehrten schon die Römer.

Verkehrte Welt an der Wiener Peripherie: Wo Stadtgebiet ist, sind Grün und Wald, sind Wanderwege und Holzstöße. Am „Land“ hingegen, auf niederösterreichischem Terrain, da ist die Zivilisation: ein Dörfchen, Siedlungsstraßen, ein Wirtshaus und eine Kirche – es dröhnen die Motoren der durchfahrenden Bikes (und die der Rasenmäher). Hier ist der Wiener Wienerwald, über der Grenze das schmucke Scheiblingstein.

Wenn Wien einen Saum an seinen Stadtgrenzen hat (wie man die Grenzregion liebevoll nennt), dann hat die Stadt folgerichtig auch einen Polsterzipfel – den Penzinger Polsterzipfel nämlich. Das letzte Eck von Wien – das nord-westliche Ende der Millionenmetropole – sieht geografisch gesehen jedenfalls genauso aus. Ob man sich hier auch zur Ruhe betten kann, wollen wir auf der Serien-Schlussetappe erkunden.

Grafik zeigt Polsterzipfel-Form.

Raserstrecke

Wir starten in Neuwaldegg, erklimmen die Serpentinen des Exelbergs, lassen die Sophienalpe links liegen und nähern uns auf der ebenso romantischen wie gefährlichen Tullner Straße L120 bedächtig dem Ende von Wien. Genau dieser Straße, die alljährlich ihre übermütigen (Zweirad-)Opfer fordert, verdankt die zipfelartige Ausbuchtung seine Form: Die Grenze zwischen Stadt und Land verläuft nämlich ziemlich genau entlang des Straßenbanketts und schlägt dabei einige wilde Haken wie ein Hase.

Und schon sind wir im 575-Seelen-Ort, der verwaltungstechnisch zu Klosterneuburg gehört. Doch das Stift und die echten „Klo’burger“ sind weit weg – 25 Autominuten nämlich. Aber auch die nächste Wiener Siedlung liegt schon zehn Minuten hinter uns. Scheiblingstein ist also so etwas wie eine Insel (der Seligen?), mit viel Durchzug, aber einem Ankerpunkt: dem Dorfwirten. Der heißt – weil ja schon auf blau-goldenem Territorium – Landgasthaus Scheiblingstein und nicht etwa Stadtwirt Scheiblingstein. Wäre zwar eine schöne Alliteration gewesen, aber wohl auch ziemlich größenwahnsinnig.

Wobei, wie das Wirtsehepaar Ivett und Michael Trappl berichtet, ganz viele Hauptstädter zu den Stammgästen zählen. Und weil heute die letzte Folge ist, wollen wir unseren Begegnungen lustige Fragen stellen: Wen bedienen Sie denn lieber, die Wiener oder die Niederösterreicher? „Beide“, sagen beide (und es klingt ehrlich). Und lieber Radler oder Motorradfahrer? Auch hier: „Beide!“

Der Gast aus Australien

So kommen wir nicht weiter. Der liebste Gast? Das sei ein Australier, der zwei Mal pro Jahr extra zu ihnen nach Scheiblingstein komme, erzählt Ivett stolz. Sie meint wohl: Ist er auf Wien-Besuch, macht er extra einen Abstecher hier heraus. Und kommt er samstags, darf er sich über ein Riesenschnitzel um nur 14,90 Euro freuen.

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Schütze Stefan und sein Blasrohr: Die Pfeile landen im Schwarzen, aber auf den echten Elch würde er nie zielen.

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Die Römer setzten hier einen Meilenstein: Der „Scheiblige“ ist Namensgeber des Ortes und als Rolling Stone ein Local Hero.

Holzstöße.

Holzstöße auf Wiener Seite.

Tafel mit Schriftzug.

Wer hat's erfunden? Der Römerstein ist eigentlich ein Wiener.

Am Wochenende ist bei Schönwetter auch kaum ein Platz zu bekommen – und seit es einen Pfeilschuss entfernt den Bogen-Parcours gibt, ist die (jagende) Kundschaft etwas diverser geworden. Hier, unter der Stromautobahn, die eine breite Wunde in den Wienerwald schlägt, beginnt der 3D-Parcours. Wobei 3D nicht die Brille meint, sondern lebensechte, große Plastikfiguren als Ziele. Die Szenerie ist durchaus etwas gespenstisch – denn wie oft begegnet man im Wienerwald schon einem Krokodil, einer Hyäne oder einem Dinosaurier?

Dem Schützen Stefan stellen wir aber die Gretchenfrage: Fuchs oder Hase – worauf schießt er lieber? Er kontert gleichsam mit einer Gegenfrage, nämlich: Flamingo oder Bison? Während ihn der rosa Vogel auf dem Parcours immer wieder verzweifeln lasse, sei das Wildrind „ein richtig lässiges Ziel“: „Da fliegen die Pfeile 50 Meter durch die Luft.“ Und dann offenbar mitten ins Bison-Herz.

Und was, wenn Emil um die Ecke elcht? Da muss Stefan lachen: Gewiss würde er ihn mit seinem Blasrohr treffen (wollte man ihn denn betäuben), aber „es ist natürlich streng verboten, auf lebende Tiere zu schießen“, stellt er klar. Ganz so weit entfernt war der Elch der Nation gar nicht, strawanzte er zuletzt doch auch in diesen Wienerwald-Anhöhen umher.

Frage aller Radler-Fragen

Letztere ziehen übrigens die Rennradler geradezu magisch an. Daher wollen wir von Aaron und Stefan, die mit ihren Rennmaschinen gerade Rast machen und einen Powerriegel verdrücken, die Frage aller Radler-Fragen beantwortet wissen: Lieber bergauf oder bergab? Endorphin oder Adrenalin? „Des is a guate Frage!“, entgegnen die beiden gebürtigen Vorarlberger – um dann nach kurzem Nachdenken einig zu sein: „Dann doch bergauf, weil ma ja Sport macha will.“ – „Und die Abfahrt soll dann ja die Belohnung sein.“ Die Belohnung folgt schon auf den nächsten Pedaltritt: Runter nach Mauerbach, dann der giftige Anstieg zur Sophienalpe und via Exelberg wieder talwärts nach Wien. Ein stetes Auf und Ab ist es hier am Rande Wiens – selbst für Xiberger, die Berge im Blut haben.

Ein Rolling Stone

Wir eilen auch ein paar Meter zurück in den Wald auf Wiener Stadtgebiet und besuchen noch das Highlight des Ortes: der Schaiblige/Scheiblige! Der etwa einen Meter große, zylinderförmige Stein ist nicht nur der Namensgeber des Ortes, sondern lebendiges Zeugnis, dass wir – ziemlich genau an der Stadtgrenze – Geschichte atmen. Denn lange vor den Rasern und Radlern rollten schon die Römer hier entlang. Auf dem Weg von Vindobona nach Comagena (Tulln) war hier sozusagen die Passhöhe – der Meilenstein aus dem 4. Jahrhundert ist ein eindrückliches Überbleibsel davon. Ein Rolling Stone seiner Zeit sozusagen und heute noch Local Hero, der – obwohl auf Wiener Gebiet – als niederösterreichischer „Aussichtspunkt“ angepriesen wird. Geschenkt.

Unser Schlussstein

Der Meilenstein der Römer ist nun der Schlussstein für uns. Denn mit dem Ende des Sommers endet auch unser „Ende von Wien“. Wobei schon die alten Römer wussten, dass jedes Ende ein neuer Anfang ist. Wien endet so gesehen auch nie wirklich, weil immer Niederösterreich beginnt.

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