Das Ende von Wien: Beim Pfirsichteich wächst Kukuruz

Irgendwann endet auch der Telephonweg, der Essling mit der Invalidensiedlung in fastschnurgerader Linie verbindet. Hinter dem Haus Nr. 412, an der Pfirsichgasse, verläuft die Grenzlinie zwischen Wien und Niederösterreich. Die Gasse wurde 1954 per Gemeinderatsbeschluss nach dem gleichnamigen Steinobst (Prunus persica) benannt. Pfirsiche wachsen hier nicht, dafür jede Menge Maiskolben, hierorts so wie im Slawischen Kukuruz genannt.
Der Telephonweg und die Pfirsichgasse rahmen die alte Invalidensiedlung im Osten und im Norden ein. Das „Wien Geschichte Wiki“ der Stadt Wien weiß mit dieser Siedlung im Norden jedoch wenig anzufangen. Knapp, grammatikalisch falsch heißt es dort: „Um 1920 als Kriegerheimstätten errichtet.“

„Fisherman and friends“
Hinter der Pfirsichgasse, bereits auf nö. Hoheitsgebiet, befindet sich der Pfirsichteich. Er war ursprünglich eine Schottergrube, ehe er mit Wasser und Fischen befüllt wurde. Laut einer Warnung auf einer rostigen Tafel wird Fischdiebstahl „polizeilich und gerichtlich bestraft“. Halb so wild, winkt ein Siedler ab. Der Reporter hält ihn in dieser Angelegenheit zunächst für höchst berufen, liest er doch im Wunschkennzeichen des Siedlerwagens das Wort Fisch. Allerdings ist Willy Vranovsky der Kopf der Band Fisherman and friends. Und statt einer Angel fischt er ein Saxofon aus dem Kofferraum seines Autos.
Der Fischermann mit dem tschechischen Familiennamen weiß mehr als die Historiker der Stadt. Er zeigt auf die Holzhütte mit viel Patina auf seinem Grundstück: „Die hat unsere Familie den Zweiten Weltkrieg überleben lassen.“ Tatsächlich war seine blinde Oma, Frau Zita Vranovsky (was für ein schöner Name!), im Jahr 1920 von Vranov bei Prag nach Wien übersiedelt.
„Die Oma hat mich immer an der Stimme erkannt“, sagt Enkelsohn Willy. „Sie hatte ein gutes Gehör, was man ja auch als Musiker benötigt.“ Die grün angestrichene Holzhütte ist wohl eine der letzten Erinnerungen an die ersten Bewohner dieser Siedlung. Er pflegt damit auch ein Erbe der Wiener Siedlerbewegung.
Vor seinem Grundstück aus hat Herr Vranovsky freie Sicht auf das Land. Soeben fliegen die Stare Formation, während ein Falke scheinbar in der Luft steht. Bei guter Sicht kann man den Schneeberg von hier aus sehen, die Wiener Hausberge auch an trüberen Tagen.
Wäre der Fluglärm der auf den Airport in Schwechat Kurs nehmenden Maschinen nicht, könnte man fast dem Kukuruz und dem anderen Gemüse beim Wachsen zuhören. Hier enden auch die Äcker des Marchfelds nicht an der Grenze zur Stadt. Und in Deutsch-Wagram ist man schneller als bei der U-Bahn-Station in Kagran.
Wo Wien endet
Das Ende von Wien ist dort, wo ein Schild mit dem roten Schrägstrich nicht fern ist. Die Peripherie Wiens wird poetisch „Saum der Stadt“ genannt. Folgen Sie unseren „Saum“-Berichten.
Teil 9
Die Invalidensiedlung im 22. Bezirk ist eine letzte Bastion Wiens vor dem Marchfeld.
136,5 Kilometer
lang ist die Grenze zwischen Wien und Niederösterreich.
Die Stadt rückt näher
Wird diese Exponiertheit auf Dauer zu retten sein? Die Vorgänger des aktuellen Bezirksvorstehers, ebenso von der SPÖ, haben die Widmungen so erwirkt, dass eine zweite Seestadt hier zumindest nicht von heute auf morgen realisiert werden kann.
Eine ältere Bewohnerin, die in der Invalidensiedlung aufgewachsen und von hier nie fortgezogen ist, ist dennoch skeptisch: „Es erscheint mir so, als würde die Stadt mit jedem Jahr ein Stückerl näher an uns heranwachsen.“
Der städtische Autobus 89A tut jedenfalls noch so, als würde die Invalidensiedlung nicht zu Wien gehören. Zwar benötigt er nur 15 Minuten bis zur U2 in der Seestadt. Allzu oft fährt er dorthin aber nicht. Floral klingt das Gassenwerk, das er passiert: Asparagusweg, Huflattichweg oder Maiglöckchenweg.
Kommentare