Die große Illusion
Irgendwie hat er es dann aber doch geschafft, und jetzt balancierte er durch die Lüfte. Für die paar Minuten, die der Artist brauchte, um die 120 Meter lange Strecke zurückzulegen, schienen die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben. Die Wienerinnen und Wiener gaben sich der Illusion hin, das Leben könnte doch leichter sein, als es schien.
Der 37-jährige Josef Eisemann war einer von ihnen. In den Wirren des Weltkriegs hatte es den „Donauschwaben“ aus der ungarisch-serbischen Region Batschka nach Wien verschlagen; in den letzten Kriegstagen wurde er zum „Volkssturm“ eingezogen und geriet in Kriegsgefangenschaft. Zurück in Wien, wo er mit seiner Frau und zwei Kindern eine kleine Wohnung in der Innenstadt bewohnte, arbeitete er als Schneider.
Seine Berufung aber war das Seiltanzen, das er als Kind bei seinem Großvater gelernt hatte, der aus einer Artistenfamilie stammte. In den 30er-Jahren trat Eisemann in Belgrad und anderen Städten auf, auch als Filmdouble wurde er engagiert, ehe der Krieg die vielversprechende Karriere jäh unterbrach. Nun wollte er sie wieder aufnehmen.
Essen auf dem Hochseil
„Es ist die Geschichte eines Mannes, der einfach nicht akzeptieren wollte, dass das Leben so trüb ist, wie es ist“, sagt der Wiener Regisseur Kai Krösche, der zusammen mit Victoria Halper voriges Jahr die Theaterperformance „Eisemann“ inszeniert hat. „Leider hat er sich dann verkalkuliert.“
Um das Interesse hochzuhalten, dachte Eisemann sich immer neue Attraktionen aus: Er tanzte Polka auf dem Seil, nahm Tisch und Sessel mit, um dort oben sein Abendessen einzunehmen; er fuhr mit dem Fahrrad aufs Seil und machte auf dem Rad einen Kopfstand – oder er nahm eine Freiwillige aus dem Publikum auf die Schultern.
Die „Freiwillige“ war seine 16-jährige Tochter Rosina – sie saß auch in der letzten Vorstellung der Serie, am 17. Juli 1949 gegen halb neun Uhr abends, auf den Schultern ihres Vaters. Augenzeugen berichteten, Eisemann habe unsicherer als sonst gewirkt. Wenige Meter vor dem Ziel verlor er das Gleichgewicht, und beide stürzten kopfüber auf den Treppelweg. Noch am Weg ins Spital erlagen sie ihren Verletzungen.
„In dem unfassbaren Ereignis spiegeln sich die Nöte und Sehnsüchte der Nachkriegszeit in vielfacher Weise wider“, fasst es der Stadthistoriker Peter Payer zusammen. „Das Ende ist auch deshalb so tragisch, weil er so nah dran war“, sagt Regisseur Krösche. Fast hätte er es tatsächlich geschafft, als Artist durchzustarten.
Die Geschichte hat etwas vom uralten Topos des Menschen, der sich gegen die Götter erhebt und dafür bestraft wird. Nur, dass Eisemann sich nicht versündigt hatte. Er hatte einfach Pech.
Wien schreit auf
Zu den Unfallursachen gibt es diverse Theorien. Eisemann soll am Vorabend lang aus gewesen und nicht genug geschlafen haben; dass er vor dem Auftritt ins Wasser gefallen war und deshalb nasse Kleider hatte, könnte ein Faktor gewesen sein. Der Schock war jedenfalls groß.
Den Aufschrei des Publikums hörte man bis hinauf in die Türmerstube des Stephansdoms, wie der Feuerwächter erzählte. Eisemanns Frau erlitt einen Nervenzusammenbruch, Sohn Peter konnte angeblich nur mit Mühe davon abgehalten werden, vom Dach eines Hauses in den Tod zu springen.
Josef und Rosina Eisemann wurden in einem Ehrengrab am Zentralfriedhof beigesetzt. Zum Begräbnis kamen Zehntausende Wiener, die um eine Illusion ärmer waren. Sie wussten: Die Gesetze der Schwerkraft sind wieder in Kraft. Und sie ahnten: Es würden ihnen noch schwere Zeiten bevorstehen.
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