Neben dem Großstadtdschungel flattern Schmetterlinge
Es liegt in der Luft. Ein einziges Molekül vier Kilometer entfernt reicht ihm, um loszustarten. Ein bisschen Sexuallockstoff – und schon kommt das Männchen angeflattert. Das Wiener Nachtpfauenauge fliegt zur möglichen Partnerin durch die Nacht. Wie der Name schon sagt, tut es das auch in Wien.
Auf dem Finger von Marion Jaros sitzt so ein Männchen. Es ist ganz ruhig untertags. Seine Fühler sind ausgestreckt.
Jaros hat den Falter in einem Behälter mitgebracht, und sie gibt ihn weiter. Wer will, kann ihn auf seinen Fingern Platz nehmen lassen. „Er ist der größte Schmetterling Europas.“ Bis zu 16 Zentimeter Flügelspannweite. Die Füße des Schmetterlings sind auf der Haut zu spüren. Sie kitzeln.
Jaros züchtet die Großen Nachtpfauenaugen. Sie stehen auf der Roten Liste, sind vom Aussterben bedroht, wie so viele Insekten.
Die gelernte Biotechnologin will nicht zuschauen, wie die Arten sterben. Sie hat für die Schmetterlinge eine Wiese organisiert. Ein Idyll im Wiener Donaupark unmittelbar neben den Hochhäusern, zehn Minuten vom Stephansplatz entfernt (mit der U-Bahn). Vanessa heißt ihr Projekt, benannt nach „Vanessa atalanta“, dem Tagfalter Admiral. Sie setzt es mit viel Leidenschaft und der Wiener Umweltanwaltschaft um – hier arbeitet Jaros auch.
Biotop
45 Tagfalterarten sind auf der Wiese zu finden. Die Nachtfalter haben die Wissenschafter noch gar nicht gezählt. Die Schmetterlinge sind gekommen, um zu bleiben. Ein Biotop versorgt sie – und viele andere Tiere wie Spechte, Hasen, Frösche – mit Wasser. Die Wiese voller Blumen wird nur selten gemäht. Die Ansiedlung von Raupen und Brennnesseln wurde gefördert – und das war für die Gärtner im Donaupark zum Projektstart 2004 durchaus ungewohnt. Die Anrainer wollten zu Beginn wissen, ob die Pflege vergessen wurde. Das war einmal. Jetzt ist hier Natur.
Die Insekten sind ein Indikator, wie es um die Umwelt bestellt ist. Auf der Schmetterlingswiese gut, aber sonst? „Die Schmetterlingspopulationen sind in den letzten hundert Jahren in Mitteleuropa auf ein Hundertstel geschrumpft“, sagt Jaros. Das bedeutet auch für Vögel und Säugetiere nichts Gutes. Sie brauchen die Insekten und die Pflanzen, die sie bestäuben. „Insektensterben, Klimakrise: Niemand weiß, wie es weitergeht.“ Entmutigen lässt sich Marion Jaros nicht. Sie kämpft mit Leidenschaft für die Natur. „Wir müssen mehr Bewusstsein entwickeln.“ Genau das versucht sie.
Wenn der Frühling gekommen ist, kommen auch die Schulklassen. 9.000 Kinder waren schon hier. Einige von ihnen sind noch nie in einer hohen Wiese gestanden. „Es ist dramatisch, zu sehen, wie viele Kinder keine Naturerfahrung haben.“ Manche fürchten sich vor Schmetterlingen, bevor sie einen in der Hand halten dürfen, nachher sind die Insekten „von Ungeziefer zu Freunden geworden“. Zu Tieren mit Bedürfnissen. Eigentlich seien Kinder ja biophil, neugierig, wie was funktioniert.
Jaros hat ihnen viel zu erzählen, eine Geschichte erzählt sie auch in ihrem Kinderbuch „Tim, der Schmetterlingsforscher“.
Tim, ein Bub aus der Stadt, verbringt die Sommerferien bei seiner Großmutter auf dem Land. Seine Begeisterung darüber hält sich in Grenzen, aber als er gleich am ersten Morgen einen riesigen Schmetterling unter seinem Fenster findet, ist sein Interesse geweckt. „Tim, der Schmetterlingsforscher“ beginnt sein Abenteuer. Gemeinsam mit Melanie, dem Mädchen aus dem Dorf.
Marion Jaros, die Initiatorin der Schmetterlingswiese in Wien, hat das Buch während der Pandemie geschrieben – als keine Schulklassen auf die Wiese im Donaupark kommen konnten. Judith Vrba hat es illustriert. Jaros gibt in diesem Buch ihr Wissen über Schmetterlinge und ihren Lebensraum für Kinder weiter. Wie leben die Insekten, was fressen sie, wie werden sie von der Raupe zum Schmetterling?
Marion Jaros. „Tim, der Schmetterlingsforscher“, ab acht Jahren, Vermes-Verlag. 96 Seiten.14,95 Euro
Transformation
Aber können einzelne Wiesen genug sein? Jedes Projekt sei wichtig, auch das Blumenkisterl am Fensterbrett. „Man soll das nicht kleinreden“, sagt die Schmetterlingsexpertin. Sie will, dass die Menschen die Natur sehen, beobachten. Veränderung sei möglich. Der Schmetterling sei ein Sinnbild der Transformation.
Von der Raupe, die auf Wachstum ausgerichtet ist, über die Puppe, die bis zu drei Jahre ohne Nahrung auskommen kann, bis zum nektarsaugenden Schmetterling, für den die Fortpflanzung das Wichtigste ist.
Das Nachtpfauenauge lebt nur eine Woche als Schmetterling. In diesen wenigen Nächten fliegt das Männchen zum Weibchen bis zu vier Kilometer durch die Dunkelheit. Und das Leben, das geht weiter.
4.000Schmetterlingsarten gibt es in Österreich laut Naturschutzbund. Davon sind nur 215 Tagfalter.
In Wien sind 135 Tagfalterarten nachgewiesen. Der Bestand nimmt in Österreich weiter ab. Alle Tagfalter- und 800 Nachfalterarten stehen auf der Roten Liste. Weltweit werden etwa 200.000 Arten gezählt.
Die Häufigsten
2021 zählten Interessierte im Rahmen einer Citizen Science Aktion in Österreich zum fünften Mal Schmetterlinge in ihren Gärten. Auf den ersten Platz schaffte es das Große Ochsenauge. Platz 2: Tagpfauenauge, Platz 3: Kaisermantel. Auch heuer findet die Zählung statt. Geplant ist sie für 1. bis 24. Juli.
Infos und andere Aktionen sind auf der Schmetterlingsapp zu finden: schmetterlingsapp.at
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