Revierkämpfe am Westbahnhof: Nichts zu tun, wenig Perspektiven
"Afghanen und Tschetschenen vertragen sich einfach überhaupt nicht", sagt Ismael. Der junge Tschetschene steht in der Wartehalle des Wiener Westbahnhofs. "Es sind immer kleine, sinnlose Gründe, warum es zu Schlägereien kommt." Immer wieder werde er von der Polizei kontrolliert, auch wenn er nicht beteiligt war. Seit zwei Wochen schauen die Beamten besonders genau.
Wenige Tage nach Weihnachten machte eine Massenprügelei zwischen Afghanen und Tschetschenen am Westbahnhof Schlagzeilen. Die Bilanz: Ein Messerstich in das Gesäß eines Beteiligten und ein verletzter Polizist.
Die Fehde zwischen den Gruppen beschäftigt die Wiener Polizei seit über einem Jahr. Ist der Wiener Westbahnhof der nächste "Hotspot"?
Der Westbahnhof ist zum Treffpunkt junger Migranten und Flüchtlinge geworden, die sich hier die Zeit vertreiben. Der Bahnhof ist beheizt, es gibt gratis WLAN. Die ÖBB haben das Areal zu einem modernen Einkaufszentrum umgebaut. Wie groß die Konflikte sind, die hier ausgetragen werden, kommt darauf an, wen man fragt. Für die einen ist die Situation noch ganz im Rahmen, der für einen Großstadt-Bahnhof normal ist. Für die anderen wurde das erträgliche Maß überschritten. Einigung ist keine in Sicht.
Sicher ist jedenfalls, dass die Situation nicht sich selbst überlassen werden kann. Denn ihre Ursachen gehen weit über einfache Revierkämpfe hinaus.
"Alles ist verboten"
Das verdeutlichen die beiden Freunde Mikmatullah, 18, und Rahim, 20. Beide kommen aus Afghanistan, leben seit drei beziehungsweise vier Jahren in Wien und haben einen positiven Asylbescheid in der Tasche.
"Wir wollen Frieden, aber wenn die Tschetschenen Probleme wollen, dann kriegen sie Probleme." Handfeste Gründe für den Konflikt kann auch er nicht nennen. Für Rahim ist es die Perspektivenlosigkeit, die viele Afghanen in Probleme treibt. "Es gibt keine Schule, keine Beschäftigung. Wir haben keine Eltern, wir sind alleine gekommen", sagt Rahim. Es gibt beim AMS keine Arbeit. Wir müssen spazieren gehen, manche trinken. Gibt es keine Beschäftigung, kommt es zu Schlägereien."
Sein Freund Mikmatullah stimmt zu: "Alles ist verboten. Herumsitzen ist verboten, Hauptbahnhof ist verboten, Afghanen sind verboten", sagt er. "Wo sollen wir denn hingehen? Wieder nach Afghanistan, oder was?"
Unter Beobachtung
Für die Wiener Polizei ist der Konflikt ein andauerndes Thema. "Die Brisanz zwischen Afghanen und Tschetschenen ist schon so groß, dass für die Eskalation oft ausreicht, wenn das Gegenüber seine Nationalität bekannt gibt", sagt Patrick Maierhofer, Pressesprecher der Wiener Polizei. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen, in Parks, entlang der U6, in Bahnhöfen. "Wir beobachten auch am Westbahnhof ein Konfliktpotenzial", sagt Maierhofer.
Die Polizeipräsenz wurde in den vergangenen Monaten schrittweise erhöht. Die Vorfälle bleiben in der Regel aber auf die Streitparteien begrenzt. "Für Passanten besteht am Westbahnhof keine Gefahr". Auch Drogendealerei scheint im Bahnhof selbst kein Thema zu sein, sondern eher vor der U-Bahn-Station zwischen den Fahrbahnen des Gürtels. Diese Differenzierung ist wichtig, wenn man verstehen will, was im und um den Westbahnhof vorgeht. Es gibt die Dealer auf der Straße und die jungen Flüchtlinge und Migranten in der Halle. Bei ihnen handelt es sich auch nicht ausschließlich um Afghanen und Tschetschenen, sondern um einen bunten Mix. In den ersten Jännertagen waren es in der Regel 30 bis 40 Personen. Der obere Teil der Wartehalle ist ein sozialer Treffpunkt für junge Männer geworden, die sonst nicht wissen, wohin.
Glaubt man Mitarbeitern der Geschäfts- und Fast-Food-Lokale in der Wartehalle, kommt es regelmäßig zu Raufereien. "Es gibt schon Kunden, die abends nicht mehr so oft kommen, seit die Flüchtlinge hier sind", sagt eine Lokalmitarbeiterin, die anonym bleiben will. Unsicher fühle sie sich aber nie. "Wenn ich mich unsicher fühlen würde, würde ich nicht hier arbeiten", sagt auch die Verkäuferin eines Geschäfts am Rand der Halle. Ein anderer Fast-Food-Mitarbeiter erinnert sich an eine Rauferei, bei der ein Sessel geflogen sei. "Ungut", sei die Situation.
Die Verkäuferin Anna, 28, arbeitet im Reformladen im Inneren des Einkaufszentrums. "Bei uns hier bekommt man eigentlich nicht so viel davon mit. Wenn es einmal einen Tumult gibt, habe ich das Gefühl, die Leute sehen, was sie eben sehen wollen", sagt sie. Die einen würden eher verharmlosen, die anderen übertreiben.
Subjektive Unsicherheit
Wie groß ist das Problem also wirklich? "Wir versuchen mit sichtbarer Präsenz ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln", sagt Gerhard Schiffauer, der Leiter der ÖBB-Konzernsicherheit. "Es ist ein Wechselspiel zwischen objektiver und subjektiver Sicherheit." Letztere sei in Österreich rückläufig, "das spüren wir auch, obwohl sich das in den Fallzahlen nicht widerspiegelt."
Die ÖBB reagieren präventiv mit Patrouillen von Security-Mitarbeitern. Ihre orangen Neon-Westen sind allgegenwärtig. Die Polizei unterhält schon seit Jahren eine kleine Inspektion am Bahnhof. Es gilt die Hausordnung. Aber es sei prinzipiell nichts dagegen einzuwenden, sich in der Wartehalle aufzuhalten und etwas zu trinken, sagt Schiffauer.
Tatsächlich heißt es auch von der Polizei, dass die Zahl der Straftaten am Westbahnhof nicht auffällig ist. "Das normale Bahnhofsbild ist für die Polizei kein Problem", sagt Polizeisprecher Maierhofer. "Als ‚normal‘ definieren wir, dass es für die Leute einfach ist, dort hinzugehen und das ist der Fall. Die Sicherheit ist gegeben. Es kommt zu Delikten wie bei anderen Bahnhöfen."
"Ein Bahnhof ist generell ein Hotspot für Angekommene, Gestrandete", sagt Nikolaus Tsekas, Leiter des Resozialisierungsvereins Neustart in Wien. "Am Westbahnhof haben wir die Sondersituation, dass sich Menschen dort aufhalten können, ohne etwas zu konsumieren, aber viele Geschäfte darauf angewiesen sind. Diese Konstellation birgt Konfliktpotenzial", sagt Tsekas,
In den vergangenen Jahren haben die ÖBB ihr Konzept umgesetzt, Bahnhöfe zu Einkaufszentren auszubauen. "Den typischen Bahnhof gibt es nicht mehr, sagt auch Gerhard Schiffauer. "Sie werden auf den größeren Bahnhöfen in Österreich alle Möglichkeiten der Nahversorgung haben, auch Einkaufszentren."
Option Sozialarbeit
Was mit jenen geschehen soll, die im Bahnhof verweilen und möglicherweise abdriften, ist noch unklar. "Offenbar will man dort eine Konsummeile machen. Die Frage ist, gibt es ein nachhaltiges Konzept? Was macht man dann? Stellt man Securitys an, die die Leute vertreiben?", fragt Nikolaus Tsekas. Er würde vorschlagen, die Sozialarbeit am Westbahnhof zu verstärken.
"Die Darstellung, dass es gefährliche Banden gibt, die unser Leben hier unsicher machen, halte ich für massiv übertrieben", sagt Tsekas. "Nicht für übertrieben halte ich die Sorge darüber, was passiert, wenn wir uns nicht mit relativ viel Aufwand und Einsatz um sozial banachteiligte Jugendliche mit Migrationshintergrund kümmern. Treiben wir sie da nicht auch in die Hände von Extremisten?"
Es gehe nicht darum, Leute zu vertreiben, sagt Gerhard Schiffauer. "Unsere Bahnhöfe sind ja de facto schon ein öffentlicher Raum. Mit ein bisschen Toleranz ist für alle Platz." Derzeit sind laut ÖBB regelmäßig Mitarbeiter der Mobilen sozialen Arbeit "sam" der Suchthilfe Wien am Bahnhof unterwegs. Der Bedarf sei damit aktuell gedeckt, heißt es aus der Pressestelle.
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