Peter Punk im Nimmerland: Ex-Obdachlose zeigen ihr Wien
"Obdachlosigkeit ist meine Qualifikation", sagt Martin. Gelbe Haare, Dreitagebart, hagere Statur. Vor einer Gruppe Journalisten gibt er am Dienstagvormittag seine Premiere als Tourguide durch das Wien der Obdachlosen und Drogensüchtigen, der Punks und Hausbesetzer. "Peter Punk im Nimmerland" heißt die zweistündige Stadtwanderung, die der Verein Supertramps künftig zwei Mal pro Woche anbietet. Sie beginnt am Karlsplatz. "Wo sonst?!", sagt Martin.
Jahrzehntelang war der Karlsplatz als der Drogen-Hotspot Wiens verschrien - bis er zur Fußball-Heim-EM 2008 "sauber" werden musste. Täglich spielten sich hier im Milieu komische und weitaus öfter tragische Geschehnisse ab - davon erzählt Martin.
Wie alles begann
Am Anfang war das Gefühl, nicht gewollt zu werden. Am Anfang war eine kleine Gemeinde im burgenländischen Seewinkel. Vier Kinder, die in eine lieblose Ehe hineingeboren werden. Ein abwesender Vater und eine frustrierte Mutter, die sich nur mehr mit Gewalt zu helfen weiß.
"Was tut man in so einer Situation", sinniert Martin. "Man umgibt sich mit anderen frustrierten Dorfkindern, nimmt Drogen und trinkt."
Dann die Scheidung der Eltern. Der 16-jährige "schwierige" Sohn wird wie der Schwarze Peter hin- und hergereicht. Schließlich landet er in einem Heim, weit weg von seinen Freunden. Seine Welt zerbricht. Doch er findet Freunde, reißt aus, hält sich in Spanien als Straßenkünstler über Wasser und kehrt schließlich in die Heimat zurück, wo niemand auf ihn wartet. Zuflucht findet der Jugendliche im Alkohol und in den Drogen. Das macht im Kreis anderer zuerst noch Spaß - bis er beim Heroin angekommen ist. "Ab da wird es finster, da verlor alles seine Unschuld. Der Spaß war vorbei", erinnert er sich.
Was folgt sind ein Leben auf der Straße und die Sucht, die Substitoltherapie mit Mitte 20 und der erste abgebrochene Entzug.
Doch das ist weitgehend Vergangenheit. Martin hat sein Leben wieder im Griff, hat Parkbank gegen Couch getauscht und wie seine Partnerin wieder eine Perspektive: Er arbeitet im Restaurant Indigo im ersten Bezirk als Gehilfe, sie studiert Elektrotechnik. Bis auf eine kleine Dosis Substitol sind beide weg von den Suchtmitteln. Nur der letzte Rest, der will nicht gelingen.
Wohnzimmer im Park
Standortwechsel: Durch die U-Bahn-Station Karlsplatz führt Martin die Zuhörer Richtung Secession - vorbei am ehemaligen Stützpunkt der Suchthilfe, wo Drogenkonsumenten früher ihre Spritzen tauschen konnten.
Dort erinnert er sich auch ans "Jedmayer" am Gumpendorfer Gürtel. "Dort gab es billiges Essen, Spritzentausch, Notschlafstellen und vor allem eine Postadresse, die man für diverse Amtswege vorweisen muss." Martin kam nicht gern ins Jedmayer, aber er kam oft.
Vom Karlsplatz führt Martin die Gruppe weiter in den Alfred-Grünwald-Park an der Linken Wienzeile - eines seiner ehemaligen Wohnzimmer. Hierher kamen er und seine Freunde aus der Punkszene früher mit ihren Hunden. Zum Trinken, Rauchen und Drogenkonsumieren. Der Park war damals menschenleer und wegen der Schallschutzwand von außen uneinsehbar. "Niemand interessierte, was wir hier gemacht haben."
"Stylisher Obdachloser"
Während im Hintergrund Kinder auf einem Klettergerüst ihren Spaß haben, erzählt Martin von den Anfängen seiner Obdachlosigkeit. Vom Land nach Wien übersiedelt übernachtete der damals Anfang-20-Jährige abwechselnd bei Freunden. Doch wenn diese in die Arbeit oder in die Schule gingen, zog es ihn auf die Straße. Dort lernte er Punks kennen - und schätzen. "Das sind coole Leute, die passen aufeinander auf."
Zuerst war alles noch Spaß. Man genoss den Zusammenhalt in der Gruppe - und trank. "Wir haben viel getrunken", erzählt Martin. "Oft hab ich einfach dort geschlafen, wo ich am Abend umgefallen bin." Auch im Winter.
In der Früh ging's dann "zum McBadezimmer" - auf die damals auch noch ohne Code zugänglichen Toiletten einer Fast-Food-Kette. Denn Körperhygiene war ihm immer wichtig. "Ich war ein stylisher Obdachloser. Man will ja Frauen kennen lernen. Darum hatte ich immer Pflegeprodukte dabei."
Er hätte sich auch um Jobs bemüht, sagt Martin. Doch das habe wegen diverser Blödheiten nie geklappt. "Meistens war ich schuld", sagt Martin. "Aber nicht immer."
Das war vor der Sucht.
Soziale Wärme
Dann kam das Heroin - und ab da war alles anders. Ab da gab es keinen Spaß mehr. "Ab da bestanden die Tage zu 90 Prozent aus Geldbeschaffung." Auch Beschaffungskriminalität habe es gegeben - "aber nie mehr als ein Ladendiebstahl. Für mehr bin ich nicht der Typ." Die Zuhörer glauben Martin.
Der hat die Gruppe indes weiter zur Constantinstiege an der Gumpendorfer Straße - zu einem Haus mit Graffiti an den Mauern und verbarrikadierten Fenstern - geführt. Es steht sinnbildlich für die Hausbesetzungen, an denen Martin beteiligt war. Für die Zeit, in der er zum ersten Mal Zusammenhalt und soziale Wärme erlebte, in leer stehenden Gebäuden ohne Heizung, ohne Strom und ohne Wasser.
Das erste Haus, das er gemeinsam mit zwei anderen besetzte, stand im südlichen Industrieviertel. Bald war man aber nicht mehr zu dritt, "sondern zu fünfzehnt. Die jüngste von uns war 13 Jahre alt. Die Polizei nahm sie zwar mit, sie war aber ganz schnell wieder da - denn niemand hatte sie als vermisst gemeldet."
Bis zum Abriss hätten Martin und seine Freunde das Haus mit Erlaubnis des Besitzers zwar weiterbewohnen dürfen - "doch damit hatte die täglich wiederkehrende Polizei keine Freude. Darum haben die Beamten kurz vor dem Winter die Fensterscheiben eingetreten. Damit war das Haus unbenutzbar - doch mir war klar: Das war nicht meine letzte Hausbesetzung."
Pizzeria Anarchia
Besonders stolz ist Martin, dass er Teil der "Pizzeria Anarchia" war. Die Geschichte ist bekannt: Ein Immobilienspekulant hatte eine Hand voll Punks 2014 eingeladen, in seinem fast leer stehenden Haus in der Leopoldstädter Mühlfeldgasse einzuziehen - um die letzten beiden verblieben Mietparteien zu vergraulen. Die Punks nahmen das Angebot an, unterschrieben einen Mietvertrag - und solidarisierten sich mit den Nachbarn. "Wir haben mit ihnen Weihnachten gefeiert, die Straße geputzt und geholfen, wo wir konnten. Ein alter Nachbar hat aus seinen letzten verbliebenen Haaren aus Solidarität sogar einen Iro (einen Irokesenschnitt; Anm.) gemacht."
Die letzte Bewohnerin - Nada - hat Martin in liebevoller Erinnerung behalten. "Sie hat gemeint: Alle, die bunte Haare haben, sind ihre Kinder."
Der Traum hatte jedoch ein jähes Ende als man die Räumungsklage gegen den Hausbesitzer verlor - und die Polizei unter massivem Personalaufwand die Pizzeria Anarchia räumte. "1.400 Beamte standen damals 19 Leuten gegenüber, die ihre Tür zugesperrt hatten." 14 Stunden dauerte die Räumung, 31 Personen wurden verhaftet - und kurz darauf wieder auf freien Fuß gesetzt.
Ein eigenes Klo
Die letzte Station, an die Martin seine Zuhörer bringt, ist der Esterhazypark - ein weiteres ehemaliges Wohnzimmer. "Der lag praktisch für uns - in der Nähe der Neubaugasse und der Mariahilfer Straße, wo wir uns zum Schnorren hingesetzt haben." Der Schmäh damals sei so unverschämt wie effizient gewesen. "Wir haben zu den Passanten immer gesagt: ,Ein Hunderter würd' schon reichen.' - Und das hat tatsächlich oft funktioniert. Da war ich selber jedes Mal schockiert."
Im Park erzählt Martin wie er sich früher seine Mahlzeiten organisierte. Das sei in Wien nicht so ein Problem, verhungern sei in einem reichen Land wie Österreich schwer. "Oft hab ich beim Kebab-Stand um ein Brot und Salat gebeten - und ich hab's meist bekommen."
"Die Obdachlosigkeit hat auch Vorteile", meint Martin. "Erstens kennt man die Stadt besser als jeder, der nie auf der Straße gelebt hat. Ein anderer sieht bloß eine Parkbank oder einen Randstein - und ich denk mir: ,Da hab ich schon einmal drauf geschlafen.'" Und zweitens wisse niemand das eigene Zuhause, "einen eigenen Fernseher, ein Bett und vor allem ein eigenes Klo", mehr zu schätzen als jemand, der lange darauf verzichten musste.
Heute ist Martin zufrieden. Er wohnt in der Eigentumswohnung seiner ebenfalls substitoltherapierten Freundin, mit der er seit zwölf Jahren liiert ist. Er hat einen Job. Und er war schon lange nicht mehr auf linken Demos oder Punk-Konzerten. Die autonome Szene ist ihm weiter wichtig - doch er sagt selbst: "Ich bin langweilig normal geworden. Am liebsten bin ich zu Hause."
Stadtführungen
Neun Wien-Touren bietet der Verein Supertramps an. Die sechs Guides sind oder waren obdachlos und erzählen aus ihrem Leben. Die Zuhörer können Fragen stellen.
Peter Punk
Martins rund zweistündige Tour heißt PR-wirksam „Peter Punk im Nimmerland“. Sie wird immer donnerstags um 18 und sonntags um 14 Uhr angeboten und findet ab zwei Teilnehmern statt. Maximale Gruppengröße: 15 Personen. Preis: 15 Euro pro Person. Martin bekommt eine kleine Aufwandsentschädigung.
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