Nachkommen von Shoah-Opfern waren auf Spurensuche in Wien

Zusammenfassung
- Angehörige von Shoah-Opfern, wie Linda Pollack-Kessler aus den USA, suchen ihre Vorfahren auf der Wiener Namensmauer.
- Silvia Goldschmidt aus Argentinien reist auf Einladung des Jewish Welcome Service nach Wien, um ihre Familiengeschichte zu erforschen.
- Moshe Lichtenstein aus Australien besucht Wien und erwägt die österreichische Staatsbürgerschaft, um seine Familienwurzeln zu ehren.
Abdela, Jacques, geboren 1877, ist der erste Name auf der Liste. Es folgen mehr als 65.000 weitere Namen, alphabetisch geordnet: Jeder einzelne erinnert an ein Schicksal, an einen Menschen, der zwischen 1938 und 1945 in Österreich von den Nationalsozialisten ermordet wurde.
Die Namensmauer gibt es seit 2021, seitdem kommen Angehörige von Shoah-Opfern aus aller Welt nach Wien, um die Namen ihrer Vorfahren auf der Liste zu suchen. Eine von ihnen ist Linda Pollack-Kessler (s. Foto oben) aus den USA. Schon nach wenigen Minuten wird sie auf der 200 Meter langen Mauer fündig: Malamet Käthe, geboren 1886. Sie war die Schwester von Pollack-Kesslers Großvater.
Ihr Großvater, ein gebürtiger Wiener, sei rechtzeitig in die USA geflohen, so Pollack-Kessler. „Auch Käthe hatte schon alle Papiere, um auszuwandern. Doch für sie war es zu spät. Sie ist deportiert worden.“ Käthe Malamet starb im Mai 1942 im Vernichtungslager Maly Trostinez in Belarus.
Linda Pollack-Kessler ist in New York geboren und aufgewachsen, Deutsch spricht in ihrer Familie heute niemand mehr.
Jazz und Politik im Hinterzimmer
Doch der Wiener Großvater habe die Familie in vielerlei Hinsicht geprägt: „Er hat seine Liebe zu Musik, zur Oper, zu Johann Strauss nach Amerika gebracht“, erzählt sie. „Gearbeitet hat er als Kellner, eigentlich war er aber ein Intellektueller, er war auch sehr belesen.“ In Hinterzimmern der Lokale, in denen er arbeitete, wurde Jazz gespielt und über Politik debattiert. Nicht zuletzt durch den Einfluss ihres Großvaters sei sie selbst Künstlerin geworden.
„Dank meines Opas hatte ich immer eine schöne Vorstellung von Wien“, fügt Pollack-Kessler hinzu. Zum ersten Mal besuchte sie die Stadt, als sie 22 Jahre alt war. „Ich kann mich nur noch erinnern, dass wir tanzen waren“, sagt die heute 69-Jährige und lacht. Nun wollte sie die Stadt eingehender erkunden: Diesmal kam sie auf Einladung des Jewish Welcome Service, der seit den 1980er-Jahren regelmäßig Besuche von vertriebenen Juden und deren Nachkommen organisiert.
Ihr Eindruck? „Amazing“ – also „fantastisch“ – antwortet sie. „Die Ringstraße, die wunderschönen Gebäude.“ Albertina, Secession und Stadtpark wolle sie unbedingt besichtigen. Und natürlich die Oper – die ihr Großvater einst so geliebt hatte.
Weite Reise von Argentinien nach Wien
Auch Silvia Goldschmidt ist auf Einladung des Jewish Welcome Service Anfang April nach Wien gereist. Die 80-Jährige ist in Argentinien geboren und aufgewachsen – auf die erste Frage des KURIER antwortet sie aber in fließendem Deutsch.

Die Argentinierin Silvia Goldschmidt zeigt Fotos ihrer Mutter,
einer einstigen Schönheitskönigin, die 1913 in Wien zur Welt kam.
„Meine Mutter ist 1913 in Wien geboren“, erzählt sie. „Sie war eine Schönheitskönigin.“ Sie zeigt Schwarz-Weiß-Fotos der Mutter, die sie bei sich trägt. „Ein General der SS war in meine jüdische Mutter verliebt“, so Goldschmidt. Er habe es ihrer Mutter und deren Eltern ermöglicht, vor den Novemberpogromen 1938 zu flüchten. Zuerst ging es nach Genua, dann nach Chile, weiter nach Argentinien.
Die Wienerin traf in Argentinien einen Burgenländer
Die Familie musste sich ein neues Leben in einer fremden Welt aufbauen: „Sie waren anfangs sehr arm und haben gemeinsam in nur einem Zimmer gelebt“, beschreibt Goldschmidt. In Buenos Aires traf ihre Mutter einen jungen Burgenländer aus Deutschkreutz. Die beiden verliebten sich und gründeten eine Familie. „1945 bin ich geboren, 1947 meine Schwester“, so Goldschmidt.
Gulasch in Buenos Aires
Der Vater baute sich in Argentinien ein Unternehmen auf. Doch Zuhause in Buenos Aires habe die Familie Deutsch gesprochen. „Auch das Essen war wie hier: Es gab gefüllte Paprika oder Gulasch.“
Das erste Mal nach Wien kam sie in den 1950er-Jahren. „Ich habe die Stadt immer geliebt“, fügt Goldschmidt hinzu. Immer wieder kam sie auf Spurensuche hierher: Etwa in die Mayergasse im 2. Bezirk, wo die Familie ihrer Mutter einst gelebt hatte. Oder nach Deutschkreutz, der Heimatort ihres Vaters. „Von den alten Häusern steht leider keines mehr.“
Von ihrer Mutter habe sie auch die Liebe zu Österreichs Kunst und Kultur geerbt: „Ich liebe die Oper“, sagt Goldschmidt, die selbst übrigens als Designerin arbeitete. „Meine Mutter war eine wunderbare Person. Sie hat sich auch für wohltätige Zwecke engagiert, vor allem für Israel.“ Die Mutter starb 2017 in Buenos Aires – sie wurde 104 Jahre.
Seine Mutter musste nach Pogromen aus Wien flüchten
Einer, der mit Österreich weniger Schönes verband, ist Moshe Lichtenstein. Seine Eltern sind in Wien geboren, er selbst wuchs in Großbritannien auf und lebt mit Ehefrau Rachel nun in Australien.
„Die Wohnung der Familie meiner Mutter ist während der Pogrome 1938 zerstört worden“, sagt Lichtenstein. Der Familie seiner Mutter gelang die Flucht nach Großbritannien. Sein Vater kam als 13-Jähriger mit einem Kindertransport von Österreich nach England. Viele andere seiner Familie konnten nicht entkommen: Die Liste der Lichtensteins auf der Gedenkmauer in Wien ist lang.

Rachel und Moshe Lichtenstein reisten aus Australien nach Wien. Lichtensteins Eltern mussten einst aus Wien flüchten.
Seine Mutter habe viel von Zerstörung und Brutalität erzählt. „Sie war sicher traumatisiert“, beschreibt Lichtenstein.
Die Mutter sah Wien über Facetime
Als sie hörte, dass ihr Sohn mit dem Jewish Welcome Service nach Wien reise, war sie skeptisch. „Dann wurde sie aber doch neugierig. Wir haben viel über Facetime telefoniert, ich habe ihr die Straße gezeigt, in der sie gelebt hat. Und sie hat gesagt, sie glaubt, einiges wiederzuerkennen“, so Lichtenstein.
Seine Frau Rachel ist Australierin, hat aber Vorfahren in Ungarn. Gemeinsam seien sie auch durch Ungarn gereist. „Dort sieht man kein einziges Denkmal, das daran erinnert, was zu jener Zeit in Europa passiert ist“, sagt Rachel Lichtenstein.
Österreich hingegen tue in diesem Bereich sehr viel. Um gegenüber den Nachkommen der Opfer des Nationalsozialismus Verantwortung zu zeigen, bietet Österreich ihnen seit 2019 die Staatsbürgerschaft an. Die Reise nach Wien habe ihn sehr beeindruckt: „Nun überlege ich, die Staatsbürgerschaft zu beantragen. Zurück zu den Wurzeln“, sagt Lichtenstein und lächelt.
Die Namen zweier Lichtensteins fehlen übrigens auf der Gedenkmauer, sagt er. Die Liste wird aber laufend ergänzt. Der derzeit letzte Name: Zysmanovicz, Sender, geboren 1890. Doch es gibt noch viele Geschichten über die 65.000 Namen zu erzählen.
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