Als in Österreich noch der Zweite Weltkrieg tobte

Im Moskauer Kreml, am Abend des 13. April 1945, erhält Josef Stalin eine Nachricht: Wien ist erobert. Der Sowjetherrscher nimmt die Nachricht mit Genugtuung zur Kenntnis. Er kennt die Stadt. 1913 hat er dort gelebt (so wie auch Hitler). Damals noch als junger bolschewistischer Agitator.
Mit der Eroberung der Stadt haben die Sowjets ihre Kriegsziele in Österreich so gut wie erreicht. Im Weinviertel, im Semmering- und Wechselgebiet sowie in der Oststeiermark wird noch gekämpft. Das Gros der Roten Armee kann sich jetzt Prag zuwenden.
Die Westmächte rücken erst am 30. April nach Österreich vor. Einheiten der französischen Fremdenlegion überschreiten in Vorarlberg bei Hohenweiler die Grenze. Kein Zufall. Der 30. April ist ein Ehrentag der Legion. Er erinnert an eine Schlacht im Mexikanischen Krieg von 1863. Damals intervenierten die Franzosen in dem lateinamerikanischen Staat und inthronisierten Maximilian, den Bruder des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. Maximilian wurde wenige Jahre später erschossen.
Eine Republik, die (fast) keiner wollte
Rund um das Kriegsende am 8. Mai 1945 wird dann ganz Österreich von den Sowjets, den USA, den Briten und Franzosen besetzt. Nur sieben Jahre zuvor, am 13. März 1938, war der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich der Nazis erfolgt. Es war das Ende der Ersten Republik.
Einer Republik, die (fast) keiner wollte. Schon 1918, nach dem Zusammenbruch des Habsburger-Reiches, wollen alle größeren Parteien zu Deutschland. Die Christlichsozialen, die Deutschnationalen sowieso – und auch die Sozialdemokraten. Nur die Kommunisten und Monarchisten sind dagegen.

Stalin kennt Wien. 1913 hat er hier gelebt
In Salzburg und Tirol gibt es Abstimmungen für den Anschluss. Die Vorarlberger wollen hingegen zur Schweiz. „Deutsch-Österreich“ heißt der Rest vom einstigen Imperium. Sozusagen als Vorgriff auf die Fusion. Staatskanzler ist der Sozialdemokrat Karl Renner. Doch die Weltkriegssieger Frankreich, Großbritannien und USA untersagen den Zusammenschluss.
Der "Ständestaat"
Turbulente Jahre folgen. Wirtschaftlich leidet Österreich unter den Folgen des Weltkriegs, der Hyperinflation (1923) und der Weltwirtschaftskrise (seit 1929). Politisch stehen sich Christlichsoziale und Sozialdemokraten unversöhnlich gegenüber. Beide Parteien gründen Kampfmilizen. 1933 wird unter dem christlichsozialen Kanzler Engelbert Dollfuß die Demokratie abgeschafft. Österreich wird ein faschistischer „Ständestaat“.

Kanzler Dollfuß schaltet die Republik aus
Im Februar 1934 kommt es sogar zum Bürgerkrieg. Das Regime wirft eine Erhebung der Sozialdemokraten nieder. Im Juli 1934 wird Dollfuß im Bundeskanzleramt bei einem erfolglosen Putsch der Austro-Nazis erschossen. Dollfuß spaltet bis heute. Die einen wollen ihn auch als Kämpfer gegen die Nazis sehen, die anderen nur als faschistischen Gewaltherrscher.
Terror gegen die Juden
Jedenfalls ist Österreich 1938 so isoliert, dass international nur fünf Staaten gegen den Anschluss protestieren: die Sowjetunion, Mexiko, Chile, China und Spanien. Mit dem Anschluss beginnt der Terror gegen die jüdischen Mitbürger. Rund 70.000 österreichische Jüdinnen und Juden und circa 10.000 österreichische Roma und Sinti wurden in Konzentrationslager verschleppt und ermordet. Nach dem Krieg wird von den Österreichern die Mitschuld der Verbrechen an den Juden geleugnet. Man fühlt sich selbst als „Opfer“ der Nazis. Erst in den 1980er-Jahren wird eine Abkehr von der Opferrolle erfolgen.

Adolf Hitler verkündet am 15. März 1938 auf dem Heldenplatz in Wien den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich.
Spätestens mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 legt sich unter der Bevölkerung die Begeisterung für den Anschluss. Am 13. August 1943 erreicht der Krieg dann Österreich: mit dem ersten Luftangriff der Alliierten auf Wiener Neustadt. Hauptangriffsziel wird aber immer wieder Wien sein.
Grenzübertritt bei Klostermarienberg
Am 29. März 1945 überschreiten sowjetische Truppen erstmals die österreichische Grenze. Im Burgenland, bei Klostermarienberg. Über die Bucklige Welt und das südliche Niederösterreich stoßen sie rasch bis ins Tullnerfeld vor. Am Morgen des 7. April beginnt die Schlacht um Wien.
In der Dokumentationsreihe „Österreich II“ von Hugo Portisch und Sepp Riff haben Zeitzeugen eindringlich den dystopischen Zustand beschrieben, als Wien Frontstadt wurde. Es gab nichts mehr. Keine Rettung, kein Rotes Kreuz, keine Feuerwehr. Und auch keine Gas-, Wasser-, Strom- und Lebensmittelversorgung.
Nach neun Tagen ist die Stadt von den Sowjets erobert. Inzwischen lässt Stalin nach Karl Renner suchen. Dem Spitzenpolitiker der Sozialdemokraten, Leiter der österreichischen Friedensdelegation in St.-Germain, dem letzten frei gewählten Präsidenten des Nationalrats der Ersten Republik und Befürworter des Anschlusses von 1938. Stalin kennt Renner noch aus frühen Tagen als gemäßigten und opportunistischen Arbeiterführer.
Karl Renner ist zurück
Renner wird ausfindig gemacht. Im niederösterreichischen Gloggnitz. Dort hat er die Kriegsjahre als Pensionist verbracht. Jetzt soll er bei der Bildung einer provisorischen Regierung eine zentrale Rolle spielen. Am 4. April hält Renner in Hochwolkersdorf eine erste Besprechung ab. Eine Einflussnahme der Sowjets auf seine geplante Deklaration an das österreichische Volk lehnt er dabei ab.

Karl Renner (links von ihm Theodor Körner) im April 1945
Am 19. April 1945 begibt sich Renner nach Wien und bezieht in der Villa Blaimschein in Hietzing Quartier. In der Villa finden dann die Verhandlungen zur Bildung der Provisorischen Regierung mit den neu gegründeten Parteien SPÖ, ÖVP und KPÖ statt. Teilnehmer sind neben Renner auch Adolf Schärf und Theodor Körner als Vertreter der SPÖ, Leopold Kunschak und Josef Kollmann als Delegierte der ÖVP sowie Ernst Fischer und Johann Koplenig als Bevollmächtigte der KPÖ.
SelbstständigkeitAm 26. April steht die Provisorische Regierung. Einen Tag später, am 27. April, ruft Renner die Selbstständigkeit Österreichs aus. Die Westmächte sind von Renner wenig begeistert. Sie halten ihn für einen Strohmann der Sowjets.
Am 25. November 1945 finden die ersten freien Wahlen statt. Die ÖVP gewinnt die absolute Mehrheit. Dennoch bildet sie mit SPÖ und KPÖ eine sogenannte Konzentrationsregierung. Und Renner wird der erste Bundespräsident.
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