Wir befinden uns in der Glyptothek der Akademie der bildenden Künste. Die Sammlung der Gipsabgüsse wurde Ende des 17. Jahrhunderts für Studienzwecke gegründet. Technisch höchst aufwendig, hat man einst von den Originalen in Rom, Paris oder Florenz Abdrücke genommen und wie ein Puzzle später in Wien zusammengesetzt.
Früher standen viele dieser Skulpturen in der Aula der Akademie. Wer zeichnen lernen wollte, studierte zunächst die Gipsabgüsse berühmter Meisterwerke. Rund 450 Abgüsse sind heute erhalten, sie bieten einen tatsächlich einzigartigen Überblick über die europäische Skulpturengeschichte. Denn Skulpturen von Michelangelo reisen nicht: Niemals wäre es möglich, seine Pietà, seinen Sterbenden Sklaven und seinen Moses gemeinsam versammelt zu sehen. Nur in diesem Keller kommen Roms Peterskirche und der Pariser Louvre zusammen.
Szenenwechsel ein paar Meter weiter zum Schillerplatz. Direkt unter der Akademie befinden sich die Depots des Kupferstichkabinetts. Auch hier: Meisterwerke. Zeichnungen von Rembrandt bis Schiele, von Dürer bis Klimt. Darunter Dürers erste Kohlezeichnung, das Bildnis eines Jünglings, von ihm selbst in Neumittelhochdeutsch beschriftet. „Also pin ich gchstalt in 18 joar alt“.
Rund 100.000 Druckgrafiken, 40.000 Zeichnungen und 22.000 Fotografien beherbergt die Sammlung. Darunter eine der frühesten Fotografiesammlungen Wiens, gegründet von Architekturprofessor und Opern-Architekt Eduard Van der Nüll unter dem Eindruck einer Reise zu den ersten Pariser Fotoateliers.
Teil der Sammlung ist auch der berühmte Herkules des niederländischen Kupferstichstars Hendrick Goltzius, dem es gelang, seinen Stichen eine fast dreidimensional wirkende Optik zu verleihen und damit im ausgehenden 16. Jahrhundert neue Maßstäbe setzte. Konkret heißt das: Herkules’ Hinterteil ist beeindruckend knackig.
Weniger knackig, eher kurios wirkt Feldherr Napoleon auf den Lithografien, die hier zu sehen sind. Nach den napoleonischen Kriegen gab es auch in Wien einen Markt für Bilder des grausamen Feldherren. Auch wenn – oder vielleicht gerade weil – die einst schillernde Figur auf diesen karikaturenhaften Bildern wie ein Riesenbaby aussieht.
Die wirkliche Sensation aber ist eine, die wie so oft auf den ersten Blick unscheinbar daherkommt. Es sind gotische Architekturzeichnungen, sie gehören zum Weltdokumentenerbe der UNESCO. Die Zeichnungen aus dem Jahr 1460 sind der Stolz des Kupferstichkabinetts. Weil solche Zeichnungen damals auf den Baustellen verwendet wurden, galten sie nicht als eigenständige Kunstwerke und gingen meist verloren. 80 Prozent der weltweiten Bestände befinden sich heute in Wien. Das Metropolitan in New York hat gerade einmal eine.
Führungen und Zeichennachmittage in der Glyptothek sowie Studiensaalbesuche im Kupferstichkabinett sind nach Voranmeldung möglich. Die Ausstellung HISTORY TALES zeigt ab 27. 9. Auszüge aus dem Bestand des Kupferstichkabinetts. www.akbild.ac.at