Kinderhände mit langen Fingern

Speziell in U-Bahnen und auf belebten Plätzen schlagen die jungen Taschendiebinnen zu. Sie müssen täglich bis zu 350 Euro „verdienen“.
Bis zu 100 Diebstähle sollen täglich auf das Konto von rund 80 Mädchen gehen.

Rund 100 Taschendiebstähle täglich in Wien. Geschätzte 80 Kinder und Jugendliche, die pro Tag bis zu 350 Euro "erarbeiten" müssen. Bei der Polizei schrillen die Alarmglocken. Junge Bosnierinnen, die darauf geschult sind, unbemerkt im Trubel der Großstadt Geldbörsen zu stehlen, sind aktuell wieder in U-Bahnen und auf stark frequentierten Plätzen unterwegs. Werden sie erwischt, hat die Polizei kaum Handhabe. Denn die Taschendiebinnen sind zu jung. Somit landen sie in Gewahrsam der Jugendwohlfahrt – unter anderem in der "Drehscheibe". Doch auch hier hält es sie nicht lange. "Zuletzt haben uns die Polizisten gerade erst die Akten in die Hand gegeben. Da sind die Mädchen schon über den Hinterausgang rausgelaufen", schildert Norbert Ceipek, Leiter der Drehscheibe.

Das Phänomen ist nicht ganz neu. Seit zwei Jahren allerdings hat es bemerkenswerte Auswüchse bekommen – in fast allen europäischen Großstädten. Doch Lösung gibt es keine.

Bestens geschult

Auch deshalb, weil die Ermittler die jungen Taschendiebe nur schwer in die Finger bekommen. "Die sind super trainiert und nur schwer zu verfolgen. Sie erkennen Polizeimaßnahmen sofort. Und sie wissen haargenau, was die Polizei und die Jugendwohlfahrt dürfen", schildert Gerald Tatzgern, Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung des Menschenhandels im Bundeskriminalamt. Und auch potenzielle Opfer filtern sie aus der Masse. Betrunkene und abgelenkte Touristen sind eine besonders leichte Beute. Aber auch kleine Drängeleien nutzen die Kinder zielgerichtet.

Es sind fast ausschließlich Mädchen, die als Taschendiebinnen in kleinen Gruppen fungieren. Aus einem einfachen Grund: Bei Mädchen wird man nicht so schnell misstrauisch.

Werden sie erwischt – wie zuletzt etwa neun Mädchen und ein Bursche vergangene Woche in der U-Bahn-Station Landstraße – erzählen sie allesamt dasselbe. Dass sie jünger als 14 Jahre sind, dass sie aus einer speziellen Stadt stammen. Sogar der Nachname ist oft gleichlautend. "Ich habe 40 Jugendliche, die alle denselben Nachnamen angeben", schildert Ceipek.

Wer sie wirklich sind, ist kaum nachvollziehbar – denn die Kinder sind nirgendwo registriert. Offiziell gibt es sie gar nicht. Wie alt sie tatsächlich sind, kann nur durch aufwendige Untersuchungen geklärt werden. Inhaftiert werden sie nur selten. Und wenn doch, ist das eine riskante Angelegenheit. Wie im Fall eines Mädchens und eines Bubens, die wegen 25 Taschendiebstählen in Untersuchungshaft genommen wurden. Als bekannt wurde, dass der Bursch vielleicht erst zwölf Jahre alt ist, war der Aufschrei groß. Er wurde im Zweifel auf freien Fuß gesetzt. Seine Begleiterin, laut eigenen Angaben ebenfalls erst 12 Jahre alt, war tatsächlich schon 17. Und drei Tage nach ihrer Enthaftung (Urteil: 9 Monate Haft, davon eines unbedingt) wurde sie in Amsterdam wegen Taschendiebstahls festgenommen.

Täter als Opfer

Sowohl Tatzgern als auch Ceipek betonen: Die Kinder sind zwar Täter. Doch in erster Linie sind sie Opfer. Denn zum Stehlen werden sie gedrillt. Wer nicht erfolgreich ist, wird bestraft. Wer das Geld schlussendlich einstreift, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Im Bundeskriminalamt geht man von unabhängig voneinander agierenden Familienverbänden aus. Ceipek vermutet mächtige Hintermänner.

Ein Ausbrechen aus diesen Strukturen ist für die Kinder jedenfalls kaum möglich. "Manchmal lassen sie sich bewusst erwischen und kommen zu uns. Die Drehscheibe ist eine Art leo. Sie können hier schlafen und essen, putzen sogar freiwillig die Küche und haben endlich ein paar Stunden zum Spielen. Nach dem Frühstück sind sie weg", sagt der Leiter der Drehscheibe.

Drei Mädchen hätten vor Kurzem daran gedacht, ein neues Leben zu beginnen. "Sie wollten in die Schule, etwas lernen." Und sie blieben tatsächlich eine Woche in der Obhut der Drehscheibe. Bis ein neues Mädchen auftauchte und die drei anderen "abholte".

Das Problem nimmt zu. "Wir bekommen täglich zwischen 3 und 14 Kinder", erklärt Ceipek. "Da werden Kinder für Sklavendienste verwendet. Nichts anderes ist es in meinen Augen."

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