In der Krise wird die Obdachlosigkeit sichtbarer
Am Zaun des Siebensternparks in Wien-Neubau hängt neuerdings ein Glas mit Tampons.
Nein, nicht einfach so.
Christoph (30) hat es dorthin gehängt. Und auch ein Sackerl mit Lebensmitteln, Taschentüchern, Desinfektionsmittel, Duschgel und Hundefutter. Aus dem Zaun, der während der Corona-Krise den Zugang zum Spielplatz absperrt, ist ein sogenannter Gabenzaun (oder Hilfezaun) geworden.
In Hamburg und Berlin gehören sie längst zum Stadtbild. Wer obdachlosen Menschen helfen möchte, füllt ein Sackerl und hängt es an einen der Hilfezäune. Menschen, die davon etwas brauchen können, dürfen sich bedienen.
In Wien gab es das bisher nicht. Christoph hat das geändert. Der Berliner kennt die Hilfezäune von zu Hause und hat nun auch jene für Wien organisiert. „Es gibt immer was zu tun und ich dachte, ich fange einfach mal damit an“, sagt er.
Die Hilfe organisiert er über eine Handy-Chat-Gruppe mithilfe der App „Telegram“. Mittlerweile machen 150 Menschen in Wien mit, acht Hilfezäune sind bis jetzt entstanden (siehe Infobox am Ende des Texts).
Abstand auf der Straße
Obdachlose Menschen belastet die Coronakrise dreifach. Viele von ihnen gehören der Risikogruppe an (älter als 65 Jahre, Vorerkrankungen), sie sind oftmals bereits sozial isoliert, jedenfalls aber marginalisiert. Und sie haben nur rudimentären Zugang zu Information. Streetworker von Caritas, Obdach Wien und SAM informieren so gut es geht.
Manch freundliche Geste geht in der Arbeit nun trotzdem verloren: „Wenn uns unsere Klienten beim Streetwork sehen, kommen sie auf uns zu. Sie brauchen Ansprache. Und wir müssen derzeit sagen: Bitte nicht so viele auf einmal“, erzählt Susi Peter. Und bitte Abstand halten.
Peter ist leitende Sozialarbeiterin in der Gruft, dem Obdachlosen-Tagesquartier der Wiener Caritas nahe der Mariahilfer Straße. Dass Susi Peter „ihren“ Klienten jetzt nicht mehr die Hand geben kann, kam für viele unvermittelt. „Der Handschlag war immer ein Zeichen der Wertschätzung“, sagt sie.
Wegen der Coronakrise wurden in Wien zehn der 13 Nacht-Notquartiere auf Ganztagesbetrieb umgerüstet. Das soll auch Obdachlosen ermöglichen, drinnen zu bleiben, soziale Kontakte und damit das Ansteckungsrisiko zu reduzieren.
Notschlafplätze bis August
Weil nicht davon auszugehen ist, dass die Krise bald vorbei ist, verlängert die Stadt nun das Winterpaket – also die Bereitstellung von Notschlafquartieren für Obdachlose über den Winter. Und zwar um drei Monate bis Anfang August.
Der Fonds Soziales Wien (FSW), der die Versorgung von obdach- und wohnungslosen Menschen in Wien verwaltet, prüft derzeit gemeinsam mit den Hilfsorganisationen, welche Standorte in Frage kommen. „Diese Maßnahme wird vielen Menschen, die wenig Rückzugsmöglichkeiten haben, den Alltag erleichtern“, sagt Sozial-Stadtrat Peter Hacker (SPÖ).
Aktuell sind die 938 Plätze in den Notquartieren laut FSW zu 95 Prozent ausgelastet. In vielen Tageszentren wurde der Betrieb umgestellt (weil weniger Menschen gleichzeitig anwesend sein sollen), in der Gruft kochen statt der Freiwilligen und Klienten nur noch Mitarbeiter der Caritas. Man will Sozialkontakte reduzieren, wo es geht.
Draußen zu Hause
Die Krise ist für Obdachlose eine zusätzliche Ausnahmesituation zu der, in der sie sich ohnehin befinden. Denn für viele, die ohne Wohnung oder prekär leben – etwa vorübergehend bei Freunden schlafen – ist der öffentliche Raum Lebensraum. Dort halten sie sich auf, dort essen sie, dort treffen sie Bekannte. Und genau dort sollen sie jetzt nicht mehr sein; die Polizei kontrolliert das auch und löst Gruppen auf.
Dass die Polizei regelmäßig Streife fährt, hat Wirkung gezeigt. Straßen und Gehsteige sind nun meist leer.
Wer jetzt noch draußen ist, hat oft kein Zuhause. „Das sind die, die auf der Straße übrig bleiben“, sagt Vera Howanietz, Bereichsleiterin bei Obdach Wien. Physisch übrig bleiben. „Unsere Klienten sind durch die Krise ein Stück sichtbarer geworden.“
Hilfezäune
Aktuell gibt es acht in Wien:
2., Praterstern, Ausgang Nord-Ost
5. Bruno-Kreisky-Park, an der Citybike-Station bei der U-Bahn-Station
7., Siebensterngasse / Kirchengasse und Europaplatz / Mariahilfer Straße.
8., Josefstädter Straße / Gaullachergasse.
12., Gaudenzdorfer Gürtel, Richtung Linke Wienzeile
Einladungslink für die App Telegram: t.me/hilfezaeunewien
Caritas Wien
Das Kältetelefon der Caritas ist nach wie vor besetzt. Unter 01/80 45 53 können so Schlafplätze von Obdachlosen gemeldet werden. Die Sozialarbeiter kümmern sich dann. Auch Geldspenden werden dringend benötigt. Caritas Spendenkonto: IBAN: AT23 2011 1000 0123 4560
VinziWerke
Weil viele freiwillige Helfer der Risikogruppe angehören, werden jüngere Freiwillige gesucht. Spendenkonto: IBAN: AT34 2081 5022 0040 6888
Kontaktaufnahme unter vinziwerke.wien@vinzi.at oder 0676 / 87 42 31 10.
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