In der Krise wird die Obdachlosigkeit sichtbarer

Der öffentliche Raum ist der Lebensraum obdachloser Menschen
Wer jetzt noch draußen ist, hat meist kein Zuhause. Die Stadt Wien verlängert das Winterpaket bis August.

Am Zaun des Siebensternparks in Wien-Neubau hängt neuerdings ein Glas mit Tampons.

Nein, nicht einfach so.

Christoph (30) hat es dorthin gehängt. Und auch ein Sackerl mit Lebensmitteln, Taschentüchern, Desinfektionsmittel, Duschgel und Hundefutter. Aus dem Zaun, der während der Corona-Krise den Zugang zum Spielplatz absperrt, ist ein sogenannter Gabenzaun (oder Hilfezaun) geworden.

In Hamburg und Berlin gehören sie längst zum Stadtbild. Wer obdachlosen Menschen helfen möchte, füllt ein Sackerl und hängt es an einen der Hilfezäune. Menschen, die davon etwas brauchen können, dürfen sich bedienen.

In der Krise wird die Obdachlosigkeit sichtbarer

Der Gabenzaun beim Siebensternpark

In Wien gab es das bisher nicht. Christoph hat das geändert. Der Berliner kennt die Hilfezäune von zu Hause und hat nun auch jene für Wien organisiert. „Es gibt immer was zu tun und ich dachte, ich fange einfach mal damit an“, sagt er.

Die Hilfe organisiert er über eine Handy-Chat-Gruppe mithilfe der App „Telegram“. Mittlerweile machen 150 Menschen in Wien mit, acht Hilfezäune sind bis jetzt entstanden (siehe Infobox am Ende des Texts).

Abstand auf der Straße

Obdachlose Menschen belastet die Coronakrise dreifach. Viele von ihnen gehören der Risikogruppe an (älter als 65 Jahre, Vorerkrankungen), sie sind oftmals bereits sozial isoliert, jedenfalls aber marginalisiert. Und sie haben nur rudimentären Zugang zu Information. Streetworker von Caritas, Obdach Wien und SAM informieren so gut es geht.

Manch freundliche Geste geht in der Arbeit nun trotzdem verloren: „Wenn uns unsere Klienten beim Streetwork sehen, kommen sie auf uns zu. Sie brauchen Ansprache. Und wir müssen derzeit sagen: Bitte nicht so viele auf einmal“, erzählt Susi Peter. Und bitte Abstand halten.

Peter ist leitende Sozialarbeiterin in der Gruft, dem Obdachlosen-Tagesquartier der Wiener Caritas nahe der Mariahilfer Straße. Dass Susi Peter „ihren“ Klienten jetzt nicht mehr die Hand geben kann, kam für viele unvermittelt. „Der Handschlag war immer ein Zeichen der Wertschätzung“, sagt sie.

In der Krise wird die Obdachlosigkeit sichtbarer

Auf dem Zaun vor dem Siebensternpark hängen Sackerl mit Spenden für obdachlose Menschen

Wegen der Coronakrise wurden in Wien zehn der 13 Nacht-Notquartiere auf Ganztagesbetrieb umgerüstet. Das soll auch Obdachlosen ermöglichen, drinnen zu bleiben, soziale Kontakte und damit das Ansteckungsrisiko zu reduzieren.

Notschlafplätze bis August

Weil nicht davon auszugehen ist, dass die Krise bald vorbei ist, verlängert die Stadt nun das Winterpaket – also die Bereitstellung von Notschlafquartieren für Obdachlose über den Winter. Und zwar um drei Monate bis Anfang August.

Der Fonds Soziales Wien (FSW), der die Versorgung von obdach- und wohnungslosen Menschen in Wien verwaltet, prüft derzeit gemeinsam mit den Hilfsorganisationen, welche Standorte in Frage kommen. „Diese Maßnahme wird vielen Menschen, die wenig Rückzugsmöglichkeiten haben, den Alltag erleichtern“, sagt Sozial-Stadtrat Peter Hacker (SPÖ).

Aktuell sind die 938 Plätze in den Notquartieren laut FSW zu 95 Prozent ausgelastet. In vielen Tageszentren wurde der Betrieb umgestellt (weil weniger Menschen gleichzeitig anwesend sein sollen), in der Gruft kochen statt der Freiwilligen und Klienten nur noch Mitarbeiter der Caritas. Man will Sozialkontakte reduzieren, wo es geht.

Draußen zu Hause

Ein Schlafsack und ein paar Flaschen liegen ausgebreitet vor einem Schaufenster

Nahe der Wiener Mariahilfer hat jemand seinen Schlafsack ausgebreitet

Die Krise ist für Obdachlose eine zusätzliche Ausnahmesituation zu der, in der sie sich ohnehin befinden. Denn für viele, die ohne Wohnung oder prekär leben – etwa vorübergehend bei Freunden schlafen – ist der öffentliche Raum Lebensraum. Dort halten sie sich auf, dort essen sie, dort treffen sie Bekannte. Und genau dort sollen sie jetzt nicht mehr sein; die Polizei kontrolliert das auch und löst Gruppen auf.

Dass die Polizei regelmäßig Streife fährt, hat Wirkung gezeigt. Straßen und Gehsteige sind nun meist leer.

Wer jetzt noch draußen ist, hat oft kein Zuhause. „Das sind die, die auf der Straße übrig bleiben“, sagt Vera Howanietz, Bereichsleiterin bei Obdach Wien. Physisch übrig bleiben. „Unsere Klienten sind durch die Krise ein Stück sichtbarer geworden.“

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