Gutachten entlastet Polizisten nicht
Die Anwältin jenes Polizeibeamten, der im März in Wien neun Schüsse auf eine tobende Frau abgegeben hatte, geht mit dem ballistischen Gerichtsgutachten in die Offensive. Das Gutachten würde ihren Mandanten entlasten und die Notwehrversion bestätigen, behauptet die Advokatin in einer Presseaussendung, die von vielen Medien übernommen wurde.
Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Denn im zweiten Teil des Gutachtens wird ausdrücklich festgehalten, dass der Beamte auch noch auf die Frau feuerte, als sie schon auf dem Boden lag.
Es geht um jenen Polizeieinsatz, bei dem im März in Rudolfsheim-Fünfhaus die 37-jährige Kerstin A. von neun Schüssen aus einer Polizeipistole getroffen wurde. Vermutlich getrieben von einer Angstpsychose hatte sich die Frau in ihrer Wohnung mit zwei Messern auf fünf Polizeibeamte gestürzt. Ein Polizist schoss im Rückzug neun Mal auf sie. Er traf jedes Mal, doch die Frau war nicht zu stoppen.
Die hohe Zahl von Schüssen löste heftige Kritik an der Polizei aus. Die gerichtsmedizinischen und ballistischen Gutachten zeigen nun auf, dass die Frau aufgrund ihres psychotischen Zustandes kein Schmerzempfinden hatte und demnach auch nach mehreren Treffern noch eine Bedrohung für die Polizisten gewesen sei. Astrid Wagner, die Anwältin des Polizisten, behauptet nun, die Gutachten würden klar die Notwehrversion ihres Mandanten belegen.
Schießgutachten
Dabei zitiert die Anwältin aber nur aus dem ersten Teil des Gutachten des Schießsachverständigen Ingo Wieser. In dieser Phase hatte die Frau sieben Treffer abbekommen. Wobei bereits hier aus dem Gutachten eine Unschärfe herauszulesen ist: "Bei drei Treffern befand sich die Frau in stark nach vorne gebeugter Haltung."Mit dieser Formulierung arbeitet der Gutachter Unterschiede zu den Aussagen der Polizisten heraus, wonach die Frau aufrecht in drohender Haltung auf sie zugestürmt sei.
Die Staatsanwaltschaft, die über eine Anklage (zumindest) wegen Notwehrüberschreitung zu befinden hat, interessiert sich aber hauptsächlich für die letzten zwei Schüsse. Laut Gutachten lag Kerstin A. "rücklings" mit abgewinkelten Beinen im Vorraum. Und in dieser Situation trafen sie die letzten beiden Projektile – eines am linken Unterschenkel und eines am rechten Knie. Abgeleitet von den Schusskanälen muss der Beamte ein bis zwei Meter vor ihr gestanden sein.
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