Essen, einkaufen, Psyche: Wie Corona das Leben in Wien verändert
Mit der heutigen Handelsöffnung für Geimpfte und Genesene kehrt der Alltag langsam wieder zurück. Aber fast zwei Jahre Pandemie haben auch Auswirkungen, die nicht durch das Aufsperren der Geschäfte einfach wieder verschwinden.
Online-Shopping und Lieferservices haben (mit Unterbrechungen) monatelang das Leben in der Stadt bestimmt. Das stellt Wirtschaftstreibende vor die Frage, wie man Kunden wieder in die Geschäfte und Lokale locken kann. Gleichzeitig haben sich viele an das Arbeiten daheim gewohnt – was Auswirkungen auf die Unternehmen und auch auf die Mobilität innerhalb der Stadt hat.
Erschreckend sind die Zahlen, die die starke Belastung bei Jugendlichen zeigen. Erst Ende November schlug man im AKH Alarm, dass sich die Suizidversuche bei Jugendlichen verdoppelt hätten. Ähnlich beunruhigend sind die Zahlen bei der Telefon-Hotline Rat auf Draht.
Der KURIER hat Experten um eine Einschätzung gebeten, wie nachhaltig sich die Pandemie auf verschiedene Bereiche auswirken wird.
Ernährung und Freizeit
Die Pandemie hat das Essverhalten stark verändert. Zu diesem Schluss kommt die „Young Fastfood-Studie“ vom Institut für Jugendkulturforschung und der T-Factory Trendagentur.
Seit Corona würden in Österreich 43 Prozent der 16- bis 29-Jährigen mehr selbst zu Hause kochen. „Der Kult ums Selberkochen beschränkt sich aber auf die gehobenen Milieus“, sagt Studienautor Bernhard Heinzlmaier.
Der Rest ersetze Frischgekochtes durch Fastfood. Das Ergebnis: 37 Prozent essen einmal in der Woche Fastfood. Auch Lieferservices sind hoch im Kurs, laut Studie gibt ein Viertel an, diese häufiger zu nutzen als vor der Pandemie.
Heinzlmaier rechnet damit, dass sich das Bequeme und das öffentlichkeitsvermeidende Verhalten noch länger halten wird: „Gastronomie und Eventanbieter werden mittelfristig große Einbußen hinnehmen müssen.“
Auch der Umstand, dass viel in den eigenen Wohnbereich investiert wurde, würde den vermehrten Rückzug in die eigene Wohlfühloase begünstigen.
Ein anderes Bild zeichnet eine Umfrage der Wirtschaftskammer Wien. Wollte vor Corona nur jeder vierte Wiener auf einen Ball gehen, ist es jetzt jeder dritte. Zumindest die Lust auf Events dürfte durch die lange Durststrecke also gesteigert worden sein.
Einkaufen
Beim Kaufverhalten kam es durch die Pandemie zu einigen Verschiebungen im Kaufverhalten, sagt Rainer Will, Geschäftsführer des Handelsverbands (HV). Wegen Trends wie „Balkonien“ wurden mehr Dinge für das Eigenheim angeschafft.
Zusätzlich kam es zu einem „Allzeit-Ausgabenhoch im Onlinehandel“- laut HV sind die Online-Umsätze österreichweit um 20 Prozent an gewachsen. Besonders Letzteres hält der HV für eine nachhaltige Entwicklung, da nun auch ältere Konsumenten über 65, die vor der Pandemie nur stationär eingekauft haben, das Online-Shopping für sich entdeckt haben.
Dadurch habe sich das Geschäftssterben, das schon vor Corona Thema war, weiter verstärkt. Trotzdem befürchtet Will auch zukünftig keine verwaisten Straßen. Österreich liege bei Käufen vor Ort im europäischen Spitzenfeld.
Im neuesten Marktbericht von Otto Immobilien geht man in Wien allerdings von einer Veränderung im Stadtbild aus. In Top-Lagen wie dem Graben boomen Neueröffnungen oder Geschäftserweiterungen.
In den Außenbezirken mache sich dafür mehr Leerstand bemerkbar. Es sei darum laut Otto Immobilien davon auszugehen, dass sich Geschäfte neu erfinden werden – etwa mit Shops mit eigener Gastro oder Concept Stores mit neuen Marken und moderneren Einkaufserlebniswelten.
Jugend und Psyche
Die Zahlen bei Rat auf Draht, der Notrufnummer für Kinder- und Jugendliche, sind beunruhigend. Im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie sind die Beratungen in allen Bereichen eklatant gestiegen.
Ein Plus von 205 Prozent gibt es bei Anrufen zu Überforderung in der Schule. Auch zu den Themen Essstörung (plus 53 Prozent), psychische Gewalt in der Familie (plus 77 Prozent) oder Alkoholkonsum in der Familie (plus 86 Prozent) rufen mehr Jugendliche an.
„Die früheren Themen wie Liebeskummer oder Aufklärung sind in den Hintergrund getreten“, sagt Rat-auf-Draht-Leiterin Birgit Satke. Der Lockdown hat in der Stadt besonders massive Auswirkungen, weil viele auf beengtem Raum leben und nicht hinausgehen können, sagt Satke.
Um nach der Pandemie die Probleme wieder in den Griff zu bekommen, sei man im urbanen Raum aber im Vorteil: „Hier ist die Dichte an Hilfsangeboten viel höher als am Land.“ Satke rät Bezugspersonen von Jugendlichen, aufmerksam zu sein und aktiv Gespräche anzubieten.
Nicht nur in der Schule haben es junge Menschen schwer, sondern auch im Berufsleben. Vor allem für jene, die erst in den letzten zwei Jahren in die Arbeitswelt eingetreten sind.
„Wir kennen Fälle, wo neue Mitarbeiter schon den Recruiting-Prozess online durchlaufen haben und seit ihrem ersten Arbeitstag im Homeoffice arbeiten“, sagt Florian Pummerer, Experte für Generations Management bei der Unternehmensberatung Albrecht Business Coaching.
Was das für das Teamgefüge für langfristige Auswirkungen hat, sei nur grob abschätzbar. Hier seien die Führungskräfte gefragt, um den Austausch zu fördern und Feedback zu geben.
Wohnen und arbeiten
Wohnen und Arbeit. Die Bereitschaft, Homeoffice anzubieten, dürfte bei den Unternehmen nachhaltig gestiegen sein, heißt es bei der Wirtschaftskammer Wien (WKW).
Laut einer Umfrage gab es vor der Krise bei zwei Drittel der Unternehmen keine Möglichkeit, daheim zu arbeiten. In den Lockdowns war das nur mehr bei etwa einem Drittel der Fall. Interessant sind die Zahlen vom relativ sorgenfrei gehandhabten Sommer: Hier war es bei mehr als der Hälfte, nämlich 56 Prozent, der Unternehmen weiterhin erlaubt, im Homeoffice zu arbeiten – also wesentlich mehr als vor der Pandemie.
Die Nachfrage der Betriebe bei der Etablierung neuer Arbeitsmodelle flache nicht ab, sagt Alexander Biach, stv. Direktor der WKW: „Dementsprechend haben wir unser Service im Arbeitsrecht, bei Bürokratie und Förderungen ausgebaut.“
Mit Homeoffice-Möglichkeiten wäre es auch leichter, Mitarbeiter, die ins Umland ziehen, im Betrieb zu halten. Der Wunsch der Städter nach eigenem Freiraum sei in der Pandemie enorm gewachsen. Auch das lässt sich an Zahlen festmachen.
Im 1. Quartal 2021 gab es eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an genehmigten Baubewilligungen in Niederösterreich und im Burgenland.
Mit mehr als 3.000 Baubewilligungen für neue Wohnungen in NÖ gab es sogar ein Allzeit-Hoch. Das könnte ein Indiz für mehr Nachfrage nach dem „Häuschen oder der (Zweit-)wohnung der Wiener am Land“ sein, sagt Biach.
Dass Wohnsitze im Umland auch vermehrt als Arbeitsplatz genutzt worden sind, zeigt sich anhand des Stromverbrauchs. In Niederösterreich stieg dieser im Jahr 2020 um 17 Prozent.
Schulden und Obdachlosigkeit
Die genaue Zahl an obdachlosen Menschen in Wien ist nicht bekannt – auch vor der Pandemie gab es keine dementsprechenden Untersuchungen. Ein Vorher-Nachher-Vergleich ist also nicht möglich.
Was es aber gibt, sind diverse Betreuungsangebote der Wiener Wohnungslosenhilfe im Fonds Soziales Wien. Hier kann man bis dato keinen pandemiebedingten Anstieg feststellen, heißt es auf KURIER-Anfrage. Allerdings ließe sich beobachten, dass „der Druck auf die Menschen steigt“.
Vorrangiges Ziel müsse es sein, Delogierungen zu verhindern. Vor allem dann, wenn Menschen wegen Corona in eine finanzielle Notlage geraten sind – und dementsprechen keine sozialarbeiterische Betreuung, sondern eine finanzielle Überbrückung brauchen.
Auch bei der Schuldnerberatung sieht man derzeit noch keine signifikanten Auswirkungen. Wichtige FörderungenBisher würden die Maßnahmen der Regierung greifen, etwa die Verlängerung der Kurzarbeit. Firmeninsolvenzen konnten durch Förderungen vermieden werden, heißt es.
Sowohl bei der Wohnungshilfe als auch bei der Schuldnerberatung rechnet man aber mit Nachzieheffekten. Wann diese kommen werden und wie stark sie ausgeprägt sein werden, lasse sich derzeit aber noch nicht abschätzen.
Verkehr
Bei den Wiener Linien hat sich der erste Lockdown am stärksten ausgewirkt – hier reduzierten sich die Fahrgastzahlen um 80 Prozent. Beim eben zu Ende gegangenen Lockdown fuhren nur 44 Prozent weniger mit den Öffis als vor Corona.
Eine Prognose, wie sich die Fahrgäste zukünftig entwickeln werden, kann man derzeit nicht abgeben, heißt es bei den Wiener Linien. Ausbau von Homeoffice hätte sicherlich Auswirkungen, allerdings sei man überzeugt, dass „der öffentliche Verkehr weiter anwachsen wird.
Beim Verkehrsclub Österreich (VCÖ) rechnet man mit nachhaltigen Veränderungen im Mobilitätsverhalten. Auch hier verweist man auf das Arbeiten daheim. „Das hat alles einen verkehrsdämpfenden Effekt“, sagt VCÖ-Sprecher Christian Gratzer.
Außerdem werde Radfahren im Trend bleiben. 26 Prozent gaben bei einer Befragung Ende 2020 an, häufiger Rad zu fahren. Zwar sagten 18 Prozent, dass sie seltener Rad fahren würden. Das wird aber damit erklärt, dass der fast vollständige Wechsel der Universitäten auf Distance-Learning den starken Radverkehr zu den Unis massiv reduziert habe.
Somit handle es sich nicht um eine generelle Abkehr vom Rad. 43 Prozent legen außerdem seit Beginn der Pandemie mehr Wege zu Fuß zurück. Im Gegenzug sagten nur 16 Prozent, dass sie weniger gehen würden.
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