Ein neuer Anfang mit 43 Jahren

Die meisten Menschen gehen an Jaroslav vorbei. Sozialarbeiterin Susanne Peter geht zu ihm hin.
Wenn es kalt ist, sucht die Caritas verstärkt Obdachlose auf Wiens Straßen auf.

"Ich such’ Sie, wenn Sie nicht wiederkommen", sagt Susanne Peter, als sie Herrn Roman beim Schottentor im 1. Bezirk trifft. "Nein, ich bin eh gleich wieder da", antwortet Herr Roman. "Hand drauf?" Hand drauf.

Drei Mal pro Woche ist Susanne Peter, die leitende Sozialarbeiterin der Gruft, der Obdachlosen-Einrichtung der Wiener Caritas, mit dem Kältebus auf Wiens Straßen unterwegs. Sie besucht bekannte Klienten oder geht Hinweisen nach, die über das Kältetelefon eintreffen. Sie fragt, wie es geht und ob etwas gebraucht wird. Decken zum Beispiel. Oder Handschuhe. Oder ein winterfester Schlafsack. Oder ob jemand mitkommen mag, in die Gruft. Wo es etwas zu essen gibt und ein Bett für die Nacht.

Ein neuer Anfang mit 43 Jahren
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Seit es vor drei Wochen kälter wurde, werden in der Gruft täglich 200 Portionen Essen ausgegeben. Im Sommer sind es etwa 180. Bis es richtig kalt ist, wird diese Zahl noch auf knapp 300 ansteigen. Das Street Work der Caritas wurde von drei auf sieben Tage pro Woche ausgedehnt; auch beimSuppenbus, der sieben Tage pro Woche unter anderem hinter dem Wiener Hauptbahnhof vorfährt, ist jetzt wieder mehr los. Mit Unterstützung der Stadt konnte die Caritas heuer 130 Schlafplätze mehr in den Notquartieren schaffen. Sie werden nun nach und nach geöffnet. "In Sachen Winter-Hilfe für Obdachlose ist die Stadt Wien europäische Spitze", sagt Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien.

Scham und Genieren

Während Susanne Peter beim Schottentor auf Herrn Romans Rückkehr wartet, entdeckt sie einen jungen Mann auf einem orangen Rucksack sitzen. "Hallo, wie geht’s?", fragt die Sozialarbeiterin und bietet eine Zigarette an. Drei Packungen hat sie in ihrer roten Umhängetasche, obwohl sie nicht raucht. "Bitte, bitte Arbeit", sagt der junge Mann. Er heißt Jaroslav, ist 23 Jahre alt, kommt aus der Slowakei und versucht seit zehn Tagen sein Glück in Wien. Jaroslav hat keine Decke, keinen Schlafsack und nächtigt im Sigmund-Freud-Park.

Ein neuer Anfang mit 43 Jahren
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Während Susanne Peter ihn über die Sozial- und Rückkehrberatung der Caritas informiert, kommt Herr Roman zurück. "Verlässlich wie ich bin", sagt er. "Und ihr habt’s Betten auch?", fragt er. Und Susanne Peter nickt.

Herr Roman hat sich entschieden, Hilfe anzunehmen. Er fährt mit in die Gruft. Keine leichte Entscheidung – weder für ihn, noch für andere Obdachlose. "Viele genieren sich und schaffen den Weg zu den Hilfsorganisationen nicht selbst", erklärt Peter.

Der Bruch im Leben

Auch bei Herrn Roman war das so. "Ich bin ein sturer Bock", erzählt er. "Aber jetzt ist es schon hart. Bei der Kälte und mit den Füßen." Herr Roman lebt seit dreieinhalb Monaten auf der Straße; sein Bart ist lang, seine Füße sind wund. Herr Roman hatte seine Arbeit verloren. Er begann zu trinken, konnte seine Miete nicht mehr zahlen und sei delogiert worden. Aus einer schimmligen Gemeindebauwohnung. 24 Quadratmeter um 167 Euro.

Seither schläft er in der U3-Station Volkstheater. Bis 0.30 Uhr ist er täglich dort, erzählt er. Dann geht das Gitter hinunter, die Station sperrt zu und Herr Roman geht "seine Runde" - bis zum Schwedenplatz und wieder zurück. "Dann ist es vier Uhr und das Gitter geht wieder hinauf", erzählt Herr Roman. Denn Seit dreieinhalb Monaten trägt er dieselbe kurze Hose, dieselben grauen Turnschuhe und dasselbe weiße T-Shirt. Die blaue Jacke hat ihm ein junger Mann beim Streetlife-Festival im September geschenkt. "Wo hatten Sie denn Ihr Essen jetzt immer her?", fragt die Sozialarbeiterin auf dem Weg zum Kältebus. "Aus’n Mistkübel ausse", sagt Herr Roman.

Den muss er an diesem Abend nicht mehr durchstöbern. Eine Kochgruppe hat für die Obdachlosen in der Gruft gekocht: Es gibt Saftfleisch. Mit Reis und Gurkensalat. "Hm. Ein neuer Anfang mit 43", sagt Herr Roman. Es scheint, als könne er es selbst noch nicht glauben. "Es ist nie zu spät für einen Neuanfang", weiß Susanne Peter.

Info & Spenden

Caritas-Kältetelefon: Ab morgen und bis April ist das Kältetelefon (01/480 45 53, kaeltetelefon@caritas-wien.at) täglich rund um die Uhr erreichbar.
Dort können Schlafplätze von Obdachlosen gemeldet werden. Streetworker helfen dann vor Ort.

Gruft Winterpaket
Schals, Hauben, Handschuhe werden genauso gebraucht, wie Geldspenden:

IBAN: AT163100000404050050
Kennwort: „Gruft Winterpaket“

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