Der Charme der letzten Wiener Tschocherln

Ein Mann mit Brille und ein Mops sitzen an einer Bar.
Die Zahl der Gasthäuser sinkt rapide. Jene, die es schaffen zu bleiben, erlangen oft Kultstatus

Wer des Nachts in Wien-Währing von der Gersthofer Straße in die Thimiggasse einbiegt, kann hinter den großen Fenstern zwischen zerschlissenen Couches, alter Holzvertäfelung und einer gefährlichen Lampen-Schirm-Goldfolien-Konstruktion im Café Stadtbahn nicht selten mehr Menschen sehen, als man im gesamten Vorstadtgrätzel Gersthof vermuten würde.

Es ist eine interessante Entwicklung: Die Zahl der urigen Beisln und gemütlichen Kneipen sinkt in Wien rapide. Während es laut Wirtschaftskammer 2012 in Wien noch 634 Gasthäuser gegeben hat (und dazu zählen die Beisln), waren es vergangenes Jahr nur mehr 473. Zwei prominente Beispiele: Das Café Wild an der linken Wienzeile hat 2016 nach einem guten Jahrhundert seine Pforten geschlossen. Das Café Industrie hat seinen Betrieb im Mai 2017 nach 103 Jahren eingestellt.

Eine Tafel vor einem Eingang weist mit Pfeilen zu „Bier“ und „Realität“.

Aus dem Bildband: „Golden Days Before They End“.

Jene Lokale, die es noch gibt, erlangen dafür oft Kultstatus. Sind sie doch Repräsentanten einer Zeit, die es wohl bald nicht mehr gibt.

Schank und Jukebox

Einer, der zumindest ein solches Lokal möglichst lange erhalten möchte, ist Peter Balon. Der 39-Jährige, der Gastronomieerfahrung unter anderem im Club „Grelle Forelle“ sammelte, hat im Februar dieses Jahres das „Tradition’s Beisl“ (sic) Schmauswaberl beim Naschmarkt übernommen.Als Gast sollte man von der Übernahme wenig mitbekommen, die alte Einrichtung samt Schank und Jukebox ist geblieben. Und das größte Lob ist wohl, dass nicht nur die alten Stammgäste weiter kommen, sondern auch die vormaligen Besitzerinnen ab und an vorbeischauen.

Schriftzug „Wiener Nostalgie: Wie sich die Stadt verändert hat“.

Was macht den Reiz dieser Lokale eigentlich aus? „Die Hierarchielosigkeit“, sagt Peter Balon. „Menschen mit den verschiedensten Lebensgeschichten, sitzen hier nebeneinander und sind alle gleich.“

 

Ein Mann trägt einen anderen Mann auf seinen Schultern in einer Bar.

Aus dem Bildband: „Golden Days Before They End“.

In jüngster Zeit sind das vermehrt auch Junge. Der gut gemixte Gin Tonic (um 3,80 Euro, gemäß Balons Mottos „moderate Preise, radikale Drinks“) trägt vielleicht seinen Teil dazu bei; ebenso wie das Popcorn in den Geschmacksrichtungen Karamell, Knoblauch und Steinsalz. Es sei aber keineswegs ein Hipster-Lokal, sagt Balon, aber, räumt er ein, es ist ein schmaler Grat.

Die hippe Jugend entdeckt die Kneipen: Da komme ein Trend nach Wien, den es seit Jahren in Berlin gibt, sagt Autor Clemens Marschall, der seine schönsten Abende auch in diesen Lokalen dieser Art verbracht hat.

„Keiner spielt was vor“

Eine ältere Frau in Sportkleidung posiert mit geballten Fäusten, während andere an einem Tisch sitzen und trinken.

Aus dem Bildband: „Golden Days Before They End“.

Warum? „Hier muss man nichts beweisen. Nicht erzählen, wie viele Projekte man am Laufen hat. Keiner spielt hier was vor und das ist angenehm“, sagt Marschall.

Das passt zu einem Satz, den Marco Wanda im KURIER-Interview noch gesagt hat: „Ich mag, dass einem hier (im Leopoldistüberl, Anm.) jeder seine Ruhe lässt. Jeder ist in seinem Diskus, das ist ein sehr anregendes geistiges Klima. Man muss nicht viel reden. Ein bisschen wie eine Pflanze; es reicht, mit anderen Pflanzen in einem Lokal zu sein.“

Durchaus viel miteinander geredet wird in jenem Beisl, in der Landesgerichtsstraße: das Café Bendl, zu dem man die berühmten „drei Stufen ins Unbewusste“ hinuntersteigt. Das sei dem Platz geschuldet, sagt Jürgen Bauer, der das Lokal vor vier Jahren übernommen hat: „Bei uns ist es so eng, und nach einem Achterl Wein oder einem Bier kommt man wie von alleine ins Gespräch.“ Und redet manchmal bis zum Morgengrauen.

Ein Gasthaus namens „Don Waldo“ in der Vivenotgasse bei Schneefall.

Aus dem Bildband: „Golden Days Before They End“.

Um diese Welt noch einmal festzuhalten, bevor sie komplett verschwunden ist, hat Clemens Marschall vor drei Jahren mit Fotograf Klaus Pichler den Bildband „Golden Days Before They End“ herausgebracht. Die Recherche hat ihnen einmal mehr verdeutlicht, wie schnell das Beisl-Sterben vonstatten geht. Von den rund 150 Lokalen, die sie zwischen 2012 und 2016 besucht haben, gebe es heute nur mehr die Hälfte.

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