Die Chance auf buntes WG-Leben

Sonja (ganz li.), ihre Betreuerin (ganz re.), sowie ihre WG-Kolleginnen Katha und Gerhild (Mitte)
In der Wiener Seestadt leben Menschen mit und ohne Behinderung zusammen

Gerhild (63) nimmt ihr großes Teehäferl und setzt sich an den Esstisch in der Mitte des Wohnzimmers. „Die Vormittagsplauderstunden mit dir werd’ ich vermissen“, sagt sie zu Katharina (27). Im April sind beide in Österreichs erste inklusive Wohngemeinschaft gezogen. Katha zieht Ende dieser Woche wieder aus. Das ist so vorgesehen.

Wiens erste WG, in der Menschen mit Behinderung mit Menschen ohne Behinderung zusammenleben, ist in der Seestadt beheimatet. In der 450 großen Wohnung mit neun Zimmern, Balkon und Loggia leben acht Personen. Sechs von ihnen sollen längerfristig (mindestens ein Jahr) einziehen, die restlichen zwei Plätze sind zum Probewohnen (maximal sechs Monate) für Menschen mit und ohne Behinderung. In beiden Wohnmodellen wird eine 50-Prozent-Quote an Menschen mit und ohne Behinderung eingehalten.

„Ich wollte immer von zu Hause ausziehen, aber nie in ein Betreutes Wohnen“, erzählt die 23-jährige Jasmin, die im Rollstuhl sitzt. „Dafür bin ich aber zu eigenständig.“ Seit Mai arbeitet Jasmin am Empfang von Jugend am Werk. Nach der Arbeit erhält sie Unterstützung von ihrer Assistentin.

Die Chance auf buntes WG-Leben

Jasmin und Katha (v.li.) wurden Freundinnen

Bereicherung

Neben Jasmin leben in der WG auch die 24-jährige Sonja und der 19-jährige Mostabah, der eine Sehbehinderung hat und an einem Kopftumor leidet. Der junge Afghane hat subsidiären Schutz erhalten, im Herbst entscheidet sich, ob er hier bleiben kann oder in seine Heimat abgeschoben wird.

Älteste WG-Bewohnerin ist die 63-jährige Gerhild. Als sie vergangenes Jahr in Pension ging, wollte sie ihre „letzte Chance“ nutzen, in die Großstadt zu ziehen. „Ich wusste, dass es keinen Sinn machen würde, alleine in einem Appartement zu leben. Ich kannte ja keinen hier“, erzählt Gerhild. Und weil sie Menschen generell „offen“ gegenübertrete, habe sie gedacht: Warum nicht?
 

Die Chance auf buntes WG-Leben

Stadtrat Peter Hacker und Sonja  (24), die das WG-Konzept mitausgearbeitet hat

„Das Spektakuläre ist hier das Nicht-Spektakuläre“, sagt Sozial-Stadtrat Peter Hacker (SPÖ). Dass die nicht-behinderten WG-Kollegen keine Betreuungsdienste übernehmen, sei einzigartig und soll „Begegnung auf Augenhöhe“ ermöglichen. Das dürfte klappen: „Je länger ich da bin, desto weniger sehe ich die Behinderungen“, sagt Gerhild.

Nur, wenn die WG-Kollegen gemeinsam Ausflüge unternehmen, fällt es ihr wieder auf: Denn nicht alle Wege sind barrierefrei, in Busse darf man nicht mit zwei Rollstühlen einsteigen.

„Ich finde es gesellschaftspolitisch ein Armutszeugnis, dass wir diese WG erst 2018 beziehen“, sagt Katharina. Für sie hat sich der Einzug gelohnt, genauso wie für Gerhild der Umzug von Salzburg nach Wien. „Es ist einfach bereichernd.“

Der Weg zur Inklusion

Die inklusive WG  „Lebe bunt!“ wird vom Fonds Soziales Wien gefördert und ist  Ergebnis des partizipativen Projekts „Wiener Wege zur Inklusion“. Ein Jahr lang dauerte der Prozess, an dem 200 Menschen mit und ohne Behinderung teilnahmen – darunter die 24-jährige Sonja (siehe links).  Sie brachten Vorschläge für neue soziale Dienstleistungen ein, die die Stadt Wien anbieten sollte.
Umgesetzt wurde die WG von „Integration Wien“ – einer Beratungsstelle für  Angehörige von Menschen mit unterschiedlichen Formen von Behinderung.  Ziel der WG ist, Menschen mit und ohne Behinderung zusammenzubringen. Das Probewohnen soll jungen Erwachsenen mit Behinderungen  Möglichkeit geben, die für sie passende Wohnform zu finden.  

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