Me-Time und Durchschlafen: Wenn Mama zur Lesenacht geht

Zusammenfassung
- Die Buchhandlung Seeseiten organisierte eine Lesenacht für Mütter, um ihnen eine Auszeit zu ermöglichen.
- Studien zeigen, dass Mütter weniger Freizeit als Väter haben.
- Die Teilnehmerinnen schätzten bei dem Event den Austausch über Bücher und ihren Alltag.
Es ist Samstagabend, der erste im Juni, kurz nach 19 Uhr. Zu dieser Zeit haben die meisten Geschäfte bereits geschlossen, doch in der Buchhandlung Seeseiten im 22. Wiener Gemeindebezirk herrscht reges Treiben. Taschen, Rucksäcke, Schlafsäcke und Isomatten stapeln sich übereinander – man könnte meinen, eine Schulklasse würde hier übernachten.
Doch der Eindruck täuscht, sobald der Blick zu den kleinen runden Tischen wandert, auf denen Sekt und Snacks bereitstehen – nicht für Kinder – die sind heute zu Hause geblieben – sondern für die Mütter. Sechs Frauen plaudern miteinander (darunter zwei Mitarbeiterinnen der Seeseiten und vier Teilnehmerinnen), tauschen sich aus und stöbern in den Bücherregalen, um sich mit Lesestoff für die Nacht einzudecken. Sie sind Teilnehmerinnen der von der Buchhandlung organisierten "Nacht der lesenden Mütter".
Mamas only - die Kinder bleiben daheim
Die Idee hinter dem Event ist simpel: Eine Nacht in einem Buchladen übernachten, um ungestört lesen und – vielleicht sogar wichtiger – ungestört ausschlafen zu können. Für viele Mütter purer Luxus. Das weiß auch die Organisatorin des Abends, Annette Postl. "Ich bin selbst Mama von drei Kindern und kann an einer Hand abzählen, wie viele Nächte ich in den letzten sechs Jahren durchgeschlafen habe", sagt sie gegenüber dem KURIER. Die Buchhandlung entschloss sich also, hier Abhilfe zu schaffen.
Die Veranstaltung wurde auf den Social-Media-Kanälen der Buchhandlung beworben. So wurde auch Barbara P. darauf aufmerksam und wünschte es sich die Teilnahme von ihrem Mann zum Muttertag. Sie schlendert zwischen den Gängen der Buchhandlung, stöbert durch Krimis, Romane, und aktuelle Bestseller. Es wirkt fast so, als würde sie jedes Buch verschlingen wollen. "Früher habe ich wirklich viel gelesen. Jetzt aber fehlt mir einfach die Energie, selbst wenn ich zwischen Arbeit und Familie noch freie Zeit hätte", erzählt P., Mutter von drei Buben.
Väter haben mehr Freizeit
Auch Studien zeigen, dass Mütter im Alltag kaum Freizeit für sich haben. In Paarhaushalten mit mindestens einem Kind unter 25 Jahren haben Väter durchschnittlich 2 Stunden und 27 Minuten pro Tag für sich, während es bei Müttern nur 1 Stunde und 49 Minuten sind. Mütter können sich zudem um ein Fünftel (21 Prozent) weniger ausruhen als Väter, so eine Analyse des Momentum Instituts.
Die wenige Me-Time, die Barbara P. findet, nutzt sie in der Regel nicht zum Lesen – dafür braucht sie eine bestimmte Stimmung, in die sie sich aufgrund des Mental Load selten versetzen kann. Sie geht eher laufen. "Dabei tanke ich Energie und bin danach besser drauf bin. Das merken auch die Kinder." Das Lesen vermisst sie aber schon, weshalb sie auch heute hier ist: Endlich mal wieder bewusst Zeit nehmen, um sich einer zu kurz gekommenen Leidenschaft zu widmen.
Schlechtes Gewissen ablegen
Ähnlich sieht es auch Petra P., die von ihrer Schwester zur Veranstaltung eingeladen wurde. Ihre Töchter sind sechs und zwölf Jahre alt. Wenn sie zwischen Beruf, Haushalt und Erziehung eine freie Minute erhascht, nutzt sie diese ebenfalls für Sport. Die Zeit für Selbstfürsorge nimmt sie sich ganz bewusst: "Beim ersten Kind hatte ich öfter Gewissensbisse, aber mittlerweile ist das nicht mehr so. Ich weiß, dass sie bei meinem Mann oder bei den Großeltern genauso gut aufgehoben sind wie bei mir", so Petra.
Auch an diesem Abend sind die Kinder beim Vater und Petra kann sich in andere Welten vertiefen. Sie mag Geschichte, die das wahre Leben schreibt, Bücher über Menschenrechte. Im Vorfeld des Abends hat sie sich in der Buchhandlung beraten lassen und eine engere Auswahl getroffen. Unter den Büchern ist auch "Only Margo" von Rufi Thorpe, das von einer jungen Frau erzählt, die ungeplant und ungewollt zur alleinerziehenden Mutter wird und sich durchschlagen muss, um sich selbst und ihr Kind zu ernähren. Harte Kost für einen lockeren Abend. Aber Geschichten, die wirklich bewegen, finden eben nie am Ponyhof statt, weiß Petra P.
"Der Druck ist enorm – man muss gefallen und funktionieren. Am Ende ist man einfach nur ausgebrannt", Barbara P.
Austausch mit anderen Müttern: "Man ist nicht allein"
Die sechs Frauen versammeln sich um die Tische mit ihren Büchern und Sektgläsern, plaudern ausgelassen und lachen. Die Chemie zwischen ihnen stimmt auf Anhieb. Neben der Liebe zum Lesen und der Mutterschaft verbindet die Frauen noch etwas: ihr Alltag.
Das Abholen der Kinder, die Organisation von Schule, Kindergarten und Job sowie Erziehung – Themen, über die es viel Gesprächsbedarf gibt. "Wenn ich mit anderen Müttern spreche, merke ich: Ich bin nicht allein und bekomme gute Tipps", sagt Barbara P.
Diskussionen über Kindererziehung finden zum Glück nicht nur in sozialen Medien statt – jene Plattformen, wo familiäre Idyllen oftmals inszeniert werden, erhöhen die Erwartungen auf Eltern in der echten Welt. "Der Druck ist enorm – man muss gefallen und funktionieren. Am Ende ist man einfach nur ausgebrannt", sagt die dreifache Mama. Die anderen stimmen ihr zu. Es ist ein wenig so, als würde sie mit ihren Worten einen Ventil aufdrehen und den im Raum aufgestauten Frust rauslassen.
Eine Lesenacht als Rettungsanker
Die Gespräche klingen gegen Mitternacht ab. Die Frauen begeben sich in ihre Schlafsäcke und beginnen zu lesen. Eine nach der anderen dösen sie dann ein, wohlwissend, dass sie kein Wecker und kein Kind in der Früh wecken wird. Auch so kann Freiheit definiert werden. Ob weitere Lesenächte für Mütter in den Seeseiten organisiert werden, steht noch nicht fest. "Das Feedback war sehr positiv. Ich denke, der Austausch über Bücher, das Frausein und Muttersein sowie den Alltag hat uns allen gutgetan", so Annette Postl. Inmitten von Stress, täglichen Herausforderungen und Erwartungen kann eine ruhige Nacht mit einem Buch zum kleinen Rettungsanker werden.
Am nächsten Morgen gibt es noch ein kleines Frühstück, natürlich inklusive Kaffee – eine Stärkung, bevor es wieder in den gewohnten Alltag zurückgeht.
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