Behindertenhilfe: 17 Organisationen fürchten Personalabbau

In der Fockygasse werden 66 behinderte Menschen betreut.
Bis zu 450 Mitarbeiter könnten aufgrund von Einsparungen durch die Stadt Wien ihre Arbeitsplätze verlieren, heißt es.

Die Lebens- und Betreuungsqualität von rund 7000 Menschen mit Behinderungen in Wien stehe angesichts langjähriger Einsparungen durch die Stadt Wien auf dem Spiel, erklärt die Interessensvertretung sozialer Dienstleistungsunternehmen für Menschen mit Behinderung, IVS Wien. Deren Vorstände Robert Mittermair, Marion Ondricek und Wolfgang Waldmüller betonen, dass bis Ende 2019 428.000 Leistungsstunden für Betroffene gestrichen werden müssen bzw. 440 der 4450 MitarbeiterInnen im Wiener Behindertenbereich ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn die Stadtregierung die geplanten Kürzungen nicht zurücknehme.

Die IVS vertritt 17 private NGOs, die im Auftrag der Stadt Wien bzw. des Fonds Soziales Wien (FSW) die Betreuung behinderter Personen übernimmt. Dabei geht es vor allem um Kernleistungen in den Bereichen Wohnen (betreute Plätze, WGs) und Arbeit (Tagesstruktur). Das Problem: Laut Waldmüller werden die Träger seit 2007 „untervalorisiert“. Soll heißen: Der FSW deckt den über die Jahre angefallenen Anstieg der Kosten - vor allem Personalkosten - nicht ausreichend ab. In Zahlen heiße das, dass die Realkosten seither um 33,6 Prozent gestiegen seien, die Kostensatzsteigerung des FSW allerdings nur um 23,8 Prozent. „Dadurch ergab sich ein Einsparungsbedarf von zehn Prozent oder rund 35 Mio. Euro“, rechnet Waldmüller vor.

Unter der ehemaligen Gesundheitsstadträtin Sandra Frauenberger wurden die Kostensätze für die Betreuung und Begleitung von Menschen mit Behinderungen für 2018 und 2019 nur um ein Prozent erhöht. „Angesichts der Tatsache, dass die realen Kostensteigerungen 2,5 bis 3 Prozent pro Jahr betragen, ist dies ein Schlag ins Gesicht der Menschen mit Behinderungen, der zu deutlichen Einbußen in der Qualität der Betreuung führen wird", so Robert Mittermair, Vorstandssprecher der IVS Wien.

KURIER-Lokalaugenschein

Wie sich die budgetäre Situation auf die Betreuungsqualität auswirkt, weiß man beim KURIER-Lokalaugenschein etwa in der BALANCE-Tageswerkstätte Fuchsenfeld in der Meidlinger Fockygasse zu berichten. Hier betreuen 20 Mitarbeiter 66 geistig und körperlich behinderte Menschen. Aufgrund der angespannten finanziellen Situation und administrativen Mehraufwands für die Mitarbeiter bleibt immer weniger Zeit für die individuelle Zuwendung, erklärt die Leiterin der Einrichtung, Doris Kallinger. "Es beginnt, richtig prekär zu werden. Wir müssen über Einsparungen nachdenken", ergänzt ihr Kollege, Martin Nemeth.

Doch jede Einsparungen erfolge zu Lasten der Nutzer (wie die Klienten der Tagesstruktur genannt werden). Handle es sich nun um Kürzungen bei Zusatzangeboten, wie Sprach-Workshops, Musikeinheiten oder Ausflügen. Oder um tatsächlichen Personalabbau.

Da der FSW vom Personal immer mehr administrative Tätigkeiten verlange, verbringen die Mitarbeiter immer mehr Zeit vor dem Computer, sagt Nemeth. "Die direkten Gespräche mit den Nutzern gehen dadurch massiv zurück. Für die Motivation der Nutzer fehlt zunehmend die Zeit. Doch das ist fatal: Denn werden behinderte Menschen nicht motiviert, dann tun sie nichts. Dann verkommt die Betreuung zur bloßen Verwahrung. Das ist total kontraproduktiv für das Krankheitsbild der Menschen, die eigentlich gefördert werden müssten. Das Ziel wäre mehr Selbstständigkeit und mehr Selbstbestimmung."

Besonders betreuungsbedürfte Menschen, etwa mit psychiatrischen Erkrankungen oder Autismus, würden deshalb bereits von etlichen Trägerorganisationen nicht mehr betreut, sagt Kallinger. "Weil diese wissen, dass sie den Betreuungsaufwand nicht mehr erfüllen können."

"Gleicher Lohn für gleiche Leistung"

IVS-Vorstand Marion Ondricek kritisiert zudem eine Schlechterstellung der 4450 Mitarbeiter gegenüber dem Personal der Stadt Wien. „Die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen ist intensiv sowie herausfordernd und verlangt enorme Flexibilität. Während in fast allen Bundesländern im Gesundheits- und Sozialbereich die Gehälter für MitarbeiterInnen im öffentlichen Bereich erhöht wurden, werden in Wien heuer nicht einmal die kollektivvertraglichen Erhöhungen für die Beschäftigten des privaten Behindertenbereiches – und die Wiener Behindertenhilfe besteht ausschließlich aus privaten Organisationen – finanziert. Wir sehen nicht ein, dass MitarbeiterInnen der privaten Dienstleistungsorganisationen im Wiener Behindertenbereich schlechter gestellt sind als das Personal der Stadt Wien und fordern für gleiche Leistung gleichen Lohn“, so Ondricek.

Auf die Situation angesprochen, zeigt sich der scheidende FSW-Chef Hacker gelassen. Die IVS vertrete die Geschäftsführer der Träger. “Und ich sage das auch als Geschäftsführer (des FSW, Anm.): Wenn Geschäftsführer nicht jammern würden, dass sie mehr Geld brauchen, wäre ich bitter enttäuscht„, so Hacker - der am 24. Mai seine neue Funktion als Gesundheits- und Sozialstadtrat antritt.

"Gewöhnliche Begleitmusik"

Die Valorisierung von einem Prozent für 2018 bestätigt man beim FSW zwar. Allerdings seien die Gespräche mit den Trägerorganisationen noch im Laufen, eine derartige "Begleitmusik" sei da nichts Ungewöhnliches.

Das erwähnte Ausmaß der Streichung der Leistungsstunden und des Abbaus von Mitarbeitern sind aus Sicht des FSW allerdings nicht nachvollziehbar. Seitens der Organisationen würden hier "scheinbar Rechenbeispiele angestellt, die Parameter wie Rücklagen und Vermögen nicht berücksichtigen", sagt ein Sprecher. "Wenn die Rede davon sei, dass bei einer 1,5%-igen Unterdeckung für 2018 zehn Prozent der Mitarbeiter abgebaut werden müssen, ist das aus unserer Sicht nicht realistisch." Über das Budget für 2019 seien zudem noch keine Gespräche geführt worden. "Wenn eine Organisation eine geringere Valorisierung erhält als gewünscht, bedeutet das zudem nicht automatisch eine Verschlechterung der Betreuungsqualität", meint man beim FSW. "Schließlich sind nicht alle MitarbeiterInnen in der Betreuung tätig, sondern auch in der Verwaltung und anderen Bereichen."

 

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