Laster, Grauen und Ekstase: Ein skandalöses Wiener Gastspiel
Die Tänzerin Anita Berber gastierte 1922 in Wien
„Es ist etwas Erfreuliches zu melden“, schrieb die „Wiener Sonn- und Montags-Zeitung“ am 20. November 1922. „In einer Zeit, da Theaterdirektoren und Konzertunternehmer die Müdigkeit des Publikums beklagen, gelingt es eines Abends, den größten Saal Wiens, den großen Konzerthaussaal, bis auf den letzten Platz zu füllen.
Das Wunder gelang einer schlanken Tänzerin: Fräulein Anita Berber.“ Das hier beschriebene Wunder war der Tanzabend der erst 23-jährigen deutschen Tänzerin und ihres Partners Sebastian Droste.
Sie gastierten am 14. November mit ihrem skandalumwitterten Stück „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ in Wien. Es sollte nur der Auftakt eines mehrwöchigen Aufenthalts sein, an dessen Ende beide der Stadt verwiesen wurden.
Lauter Tabubrüche
Das Publikum erwartete ein Abend voller Tabubrüche: Zu Melodien von Liszt, Saint-Saëns und Rachmaninow thematisierte das Tanzpaar – teils nackt – in seinen Stücken Drogenmissbrauch, Syphilis, Suizid und Homosexualität.
Dabei trugen die Tänze so klingende Namen wie „Haus der Irren“, „Selbstmord“, „Morphium“ oder „Byzantinischer Peitschentanz“. Die Kritiken waren gespalten. „Das Publikum verabschiedete sich nach überlautem Beifall wie ein dankbarer Gast, nicht eine Stimme der Unzufriedenheit oder Enttäuschung“, schrieb die „Sonn- und Montagszeitung“ nach dem Auftritt. „Der ausverkaufte Saal war schon ekstatischer“, konstatierte hingegen das „Neue 8 Uhr Blatt“ nüchtern.
Auftrittsverbot
Das Interesse war jedenfalls enorm, auch der zweite Auftritt im Wiener Konzerthaus war restlos ausverkauft. Ein dritter Abend war bereits angekündigt, als Berber und Droste wegen „Kontraktbruchs“ in Schwierigkeiten gerieten: Sie hatten einen Vertrag mit dem Ronacher, aber auch mit dem Apollo, dem Tabarin und den Kammerspielen abgeschlossen. Die Folge war ein Auftrittsverbot, das die beiden jedoch ignorierten – und damit beinahe im Gefängnis gelandet wären.
„Ganz Wien ist über die Affären der Tänzerin Anita Berber furchtbar aufgeregt“, schrieb die „Illustrierte Kronen Zeitung“ am 10. Dezember.
Die Gerichtsaffäre um die Tänzer schien den krisengeschüttelten Wienern eine willkommene Abwechslung zu sein. „Es ist eine ebenso bedauerliche als für dieses Wien bezeichnende Tatsache, dass die Affäre Anita Berber-Droste die Öffentlichkeit durch Tage mehr in Atem hält als Neuwahlen und Preisabbau“, schrieb das „Wiener Montags-Journal“ am 12. Dezember. Im Jänner sorgten Berber und Droste immer noch für Schlagzeilen. Die beiden hatten in wenigen Wochen erhebliche Schulden angehäuft. Ende Jänner war der Spuk vorbei, Droste und Berber wurden nach Ungarn ausgewiesen.
Anita Berber war kein langes Leben beschieden, jahrelanger Alkohol- und Kokainmissbrauch hatten ihre Spuren hinterlassen. 1927 brach sie während einer Tournee durch den Nahen Osten in Damaskus auf der Bühne zusammen: Sie war an Tuberkulose erkrankt. Im November 1928 starb sie in Berlin. Sie wurde nur 29 Jahre alt.
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