Das Adjektiv „tief“ ist in Wien nicht bloß eine Höhenangabe. Entsprechend intoniert ist es auch eine wenig schmeichelhafte Wertung. Weshalb sich gemeinhin niemand um diese Zuschreibung reißt. Im Kraftwerk Freudenau tut man das schon: Dort legt man sogar Wert darauf, in ganz Wien am tiefsten zu sein.
Gemeint ist das im eigentlichen Wortsinn: Bei dem Flusskraftwerk befindet sich nämlich der tiefste begehbare Punkt der Stadt. Und zwar in einem betonierten Gang weit unter den Wassermassen der Donau. Einem Gang, der für den Hochwasserschutz und die Versorgung Wiens mit Strom große Bedeutung hat.
Dort unten, exakt 129,25 Meter über Adria-Niveau, ist es eng, dunkel und ruhig. Zu hören ist nur das leise Plätschern von Wasser – und gelegentlich die Stimme von Herbert Wagner.
Er arbeitet seit Jahrzehnten für den Verbund, der das Kraftwerk betreibt, und führt regelmäßig Besucher herum. „Unter unseren Füßen sind noch drei Meter Beton“, sagt er. „Dann kommt der Tegel, die grundwasserführende Lehmschicht.“
Konkurrenz von U-Bahn
Mit diesen Werten sticht das Kraftwerk Freudenau sogar die Wiener Linien aus, die so etwas wie Spezialisten für Tiefpunkte sind: Das Alte Landgut ist derzeit die tiefste U-Bahn-Station, sie befindet sich 218,4 Meter über Adria.
Bald wird sie von der Neubaugasse abgelöst: Die Station der verlängerten U2 wird auf 144,7 Meter liegen – aber damit doch um einiges höher als der Gang im Kraftwerk.
Dass es in der 200 Meter langen Röhre so still ist, erstaunt angesichts dessen, was sich ein Stück weiter oben abspielt. Dort sind sechs riesige Kaplanturbinen montiert. Durch jede von ihnen rauschen pro Sekunde gigantische 500.000 Liter Donauwasser.
In acht Minuten ist das zusammen so viel Wasser, wie die Wiener Haushalte in einem Jahr verbrauchen. Über die angeschlossenen Generatoren wird Strom erzeugt, mit dem ein Drittel des Wiener Bedarfs gedeckt werden kann.
Makabere Funde
All das geschieht im Verborgenen. Von außen zu sehen sind nur die beiden Schleusen für Schiffe und die Wehre, mit denen die Donau aufgestaut wird. Die Turbinen befinden sich unter der Wasseroberfläche. Bevor das Wasser dorthin gelangt, strömt es durch ein Gitter, das Treibgut auffängt – allen voran Holz und Müll.
In den insgesamt 129 Verbund-Kraftwerken in Österreich und Bayern kommen jährlich bis zu 25.000 Tonnen zusammen.
Häufig machen die Mitarbeiter auch makabere Funde: Angespülte Wasserleichen. „Das passiert etwa fünf Mal in Jahr“, sagt Verbund-Sprecher Florian Seidl. Diese relativ hohe Zahl liege daran, dass man sich in einem Ballungsraum befinde.
Für die breite Öffentlichkeit ist das Kraftwerk vor allem eines: eine praktische Verbindung vom Hafen auf die Donauinsel. Eine 450 Meter lange Brücke entlang des Baus verbindet die beiden Donauufer – sie wird gerne von Joggern und Radfahrern genutzt.
Kraftanstrengung
Der Gang verläuft parallel zur Brücke, hinunter kommt man über Stufen und einen Aufzug. „Früher war zweimal pro Woche jemand hier“, sagt Tourenleiter Wagner. An den Wänden sind in regelmäßigen Abständen senkrechte Fugen zu sehen – sogenannte Trennfugen.
Sie markieren die einzelnen Abschnitte des Kraftwerks: Dieses ist nämlich nicht aus einem Guss, sondern aus mehreren Bauwerksteilen zusammengesetzt. Für den Laien wirken die Fugen recht unspektakulär, sie haben aber eine enorm wichtige Funktion.
Jeder der massiven Betonteile ist großen Kräften ausgesetzt: Die Donau drückt permanent dagegen. Die einzelnen Kraftwerksteile sind allerdings nicht im Untergrund verankert, sondern stehen bloß auf der Lehmschicht.
Sie halten der Strömung einzig und allein durch ihr Gewicht stand. Und dieses ist mit 3,3 Millionen Tonnen enorm hoch – immerhin wurden 1,4 Millionen Kubikmeter Beton verbaut.
Präzise Überwachung
Dennoch muss überwacht werden, dass die Bauwerksteile dem Druck standhalten und nicht zu wandern beginnen. „Das wäre ein massives Sicherheitsproblem“, so Sprecher Seidl.
Die Ausgangslage für den Bau des Kraftwerks Freudenau hätte besser sein können. Die Besetzung der Hainburger Au wegen des dort vom Verbund geplanten Kraftwerks war noch nicht lange vorbei, als man mit den Planungen für eine Staustufe in Wien begann.
Im Mai 1991 wurde sogar die Meinung der Wiener zu dem Vorhaben eingeholt. Die (nicht bindende) Befragung ging im Sinne des Verbunds aus: 70 Prozent stimmten für das Kraftwerk Freudenau. Die Wiener Grünen verdanken dieser Befragung zum Teil ihren Einzug in den Gemeinderat im selben Jahr: Die Kraftwerkspläne mobilisierten ihre Sympathisanten.
Beim Verbund erklärt man sich das Pro-Votum mit Kommunikation: Sogar bei „den Nackerten auf der Donauinsel“ habe man einen Infostand gehabt. Gebaut wurde ab 1992 – nach Standards, die damals noch unüblich waren: Erstmals an der Donau wurde eine Fischaufstiegshilfe in Form eines naturnahen Umgehungsbachs angelegt.
Mit den Fugen wird dafür gesorgt, dass es nicht so weit kommt. Früher tat man das mit Glasplatten, die quer über die Fugen montiert waren. Hätte sich ein Kraftwerksabschnitt bewegt, wären sie zersprungen – deshalb die regelmäßigen Kontrollbesuche.
Heute gibt es eine elektronische Überwachung. Und so begeben sich nur noch an Sonn- und Feiertagen Menschen an den Tiefpunkt – bei den Führungen von Herbert Wagner. Diese starten jeweils um 14 Uhr und kosten für Erwachsene 6,60 Euro. Eine Anmeldung ist vorab unter stromhaus@verbund.com nötig.
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