100 Sozialarbeiter für die Wiener Schulen

Neo-Stadtschulratspräsident Jürgen Czernohorszky fordert mehr Ganztagsschulen.
Wiens neuer Stadtschulratspräsident Jürgen Czernohorszky (38) über Antiradikalisierung und Flüchtlingshilfe.

Wiens Kindergärten sind in aller Munde. Wie sieht es aber an den Schulen mit Radikalisierungstendenzen aus? Der KURIER sprach mit Jürgen Czernohorszky (SPÖ), der vorige Woche das Amt als Stadtschulratspräsident antrat.

KURIER: Wie kann Schule mithelfen, Radikalisierung zu verhindern?
Jürgen Czernohorszky:Indem wir uns damit auseinander setzen, dass möglichst kein Kind zurückbleibt. Zum Beispiel durch mehr Personal. Es gibt hier in Wien das Vorhaben, 100 zusätzliche Leute für die Sozialarbeit in Schulen zur Verfügung zu stellen. Ein Thema ist auch, dass es das gegenwärtige Schulsystem nicht ausreichend schafft, Kindern mit geringen Chancen mehr Chancen zu ermöglichen. Bis zu einem gewissen Grad wird Bildung vererbt. Einer der Gründe ist, dass es zu wenig Ganztagsschulangebote gibt. Weil eine Schule, die ein Kind um 12, 1, 2 Uhr entlässt, tut das auch mit dem sprichwörtlichen Rucksack an Aufgaben und Herausforderungen. Da gibt es zwei Möglichkeiten: entweder das Kind wird dabei unterstützt, oder eben nicht. Das ist auch ein Grund, warum die Stadt Wien das Fördermodell 2.0 (optionale Lernhilfen in Volks-, Neue Mittelschulen und AHS; Anm.) ins Leben gerufen hat. Das ist aber nicht nur ein Match für Wien, sondern für ganz Österreich. Ballungszentren brauchen da mehr Unterstützung – daher erwarte ich mir vom Finanzminister, dass er im Zuge der Finanzausgleichsverhandlungen je nach sozialen Herausforderungen mehr an Ressourcen zur Verfügung stellt.

Seit fast zwei Jahren ist in Wien das Antiradikalisierungsnetzwerk aktiv. Gibt es quantifizierbare Erfolge?
Quantifizieren kann man die Anzahl der vielen Lehrer, mit denen wir gearbeitet haben: Fast 2000 Pädagogen – Lehrer, aber auch Personal aus der außerschulischen Jugendarbeit, die eine spezielle Schulung bekommen haben. Für Menschen, die nur einen Hammer kennen, schaut ja jedes Problem wie ein Nagel aus. Uns geht es aber darum, den Lehrern eine Vielzahl an Maßnahmen für die Problemlösung anzubieten – an die jeweilige Situation angepasst. Das ist ja die große Stärke von Lehrern: Sie stehen in Verbindung mit Jugendlichen, die betroffen sind. Das ist wichtig für die Früherkennung, für die Arbeit mit den Schülern und ihren Eltern. Die meisten Fälle, die wir kennen, werden ja auch auf dieser Ebene gelöst. Natürlich: wenn Gesetze übertreten werden oder Gefahr im Verzug ist, endet die Möglichkeit „weicher Maßnahmen“. Da gibt es etwa die Kooperation mit dem Verfassungsschutz.

In einem Zeitungsinterview berichtete der Direktor einer Neuen Mittelschule in Floridsdorf von Dschihad-Anwerbern vor der Schule. Sind Ihnen noch mehr solcher Fälle bekannt?
In dem Interview ist von einem Fall aus der Vergangenheit die Rede, eine aktuelle Zunahme derartiger Fälle gibt es nicht. Im Fall des Falles werden aber alle Möglichkeiten ausgenutzt. Wenn Extremisten vor der Schule stehen und Schüler anwerben wollen, muss man mit der Polizei kooperieren. Im Fall einer schleichenden Radikalisierung von Schülern ist es sinnvoll und richtig, mit ihnen selbst und mit deren Eltern zu sprechen, um den Fall an der Schule zu lösen – was hier auch geschehen ist.

Derselbe Schulleiter schilderte „ein konservatives, fast rassistisches Islamverständnis“ an seiner Schule. Nicht-muslimische Schüler würden von muslimischen zum Teil gemobbt. Ist diese Beobachtung repräsentativ für Wiens Schulen?
Nein. Aber in einer Stadt, in der 22.800 Lehrer mit 200.000 Schülern arbeiten, wäre es dumm, zu sagen, ein Problem gibt es überhaupt nicht. Wir haben in Wien aber keine Brandherde. Jede Schule hat einen anderen Background. Es wäre hochgradig vereinfachend, zu sagen, von den 670 Schulen in Wien gibt es jetzt die zehn, da muss man besonders hinschauen. Der Vorteil ist: In Wien sind mehrere Stellen ununterbrochen an den Schulen dran. Jede Schulleiter hat ein Gegenüber in der Schulaufsicht. Das ermöglicht uns nahezu auf Knopfdruck eine Situationsanalyse jeder Schule in der Stadt.

Und wenn ein Direktor über Rassismus in und Dschihad-Anwerber vor der Schule berichtet – haben da Früherkennung bzw. Kontrolle nicht funktioniert?
Auch wenn beispielsweise eine Seuche die Schule trifft, ist das auch nicht die Schuld der Schule. Wir können nur so schnell wie möglich darauf reagieren und die Schulen stark machen, damit sie damit umgehen können.

In einigen Schule wünscht man sich ein Kopftuch-Verbot. Was halten Sie von der Debatte?
Ich möchte, dass sich junge Menschen frei entfalten können – und eine religiöse Gesinnung ist eine Form der Entfaltung. Lehrer sollen sie dabei unterstützen. Das endet allerdings dort, wo die Freiheit anderer eingeschränkt wird.

Themenwechsel: Wie viele Flüchtlinge sind aktuell an Wiener Schulen untergebracht?
Derzeit zirka 1300. Und für Wien ist es unbestritten, dass jedes Kind, das in unserer Stadt ist, Zugang zur Schule braucht. Manche Bundesländer, wie etwa NÖ, lassen sich da bis zu sechs Monate Zeit. Aber ich meine, das ist der größtmögliche Beitrag zu gesellschaftlicher Integration. Da muss man schnell reagieren. Natürlich ist das auch eine große Herausforderung, weil die Anzahl ja nicht fix ist – ständig kommen neue Kinder und Jugendliche zu uns. Da muss die Schulverwaltung Schulraum schaffen. Und zwar nach Möglichkeit Wohnort-nah.

Wie funktioniert die Betreuung angesichts von Traumatisierung und sprachlicher Defizite?
Wie für jedes andere Kind gibt es eine zusätzliche sprachliche Förderung über den herkömmlichen Unterricht hinaus, falls das notwendig ist. Und dazu gibt es für Flüchtlingskinder die „Neu in Wien“-Startkurse, wo man sich bis zu fünf Tage lang mit Traumata oder auch sprachlichen Defiziten auseinander setzt. Der Bund hat psychologische Unterstützungsmaßnahmen zugesagt.

Integrationsminister Sebastian Kurz (ÖVP) schlägt einen Wertekurs für Flüchtlinge vor. Eine gute Idee?
Offen gestanden, ist das nichts Neues. Es ist richtig und wichtig, sich mit Menschen, die neu nach Wien kommen, zu beschäftigen und ihnen zu vermitteln, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Das geschieht aber bereits durch die Niederlassungsbegleitung „StartWien“, die jeder Mensch bekommt, der neu nach Wien kommt. Also die Maßnahme ist sinnvoll, aber es gibt sie bereits. Wie vieles andere, was da debattiert wird.

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