Der Postraub des Jahrhunderts

Posträuber Ronald Biggs hielt Scotland Yard 36 Jahre lang zum Narren - hier Biggs mit seinem eigenen Fahndungsfoto.
Ronald Biggs war der „prominenteste“ der 16 Ganoven, die Millionen kassierten.

Es war mit einer Summe von umgerechnet 50 Millionen € nicht nur der größte Postzugraub, sondern auch eine der unglaublichsten Kriminalstorys des Jahrhunderts. Allein, dass Ronald Biggs, der „prominenteste“ unter den Räubern, aus dem Gefängnis flüchten konnte und danach Interviews wie ein Hollywoodstar gab, verlieh dem Überfall mehr Glamour als irgendeine andere kriminelle Tat je erreichen konnte. Das Ganze ist 50 Jahre her – und wurde, wie sich’s für einen spektakulären Krimi gehört, mehrmals verfilmt. Auch jetzt gerade wieder – und diesmal unter Verwendung bisher geheim gehaltener Polizeiakte.

Raub in 15 Minuten

Wir schreiben den 8. August 1963. Es ist drei Uhr früh, als sich der königliche Postzug von Glasgow nach London einem Lichtsignal nähert. Die Räuber verdecken die grüne Lampe und schalten eine rote ein. Der Lokführer bleibt stehen und wird von maskierten Männern überwältigt. Sie wissen, dass der zweite Waggon mit 120 Geldsäcken angefüllt ist. Er wird aufgebrochen, die vier Wächter werden gefesselt. Dann muss der Lokführer zur nahen Bridego-Bridge fahren, unter der mehrere Autos warten. Die Beute von 2,6 Millionen Pfund wird hinuntergeworfen, 15 Minuten später ist die Aktion beendet.

Scotland Yard leitet eine Großfahndung ein, doch es dauert Monate bis die ersten der 16 Täter gefasst werden. Ronald Biggs, der am Tag des Überfalls seinen 34. Geburtstag gefeiert hat, geht den Kriminalisten erst nach einem Jahr ins Netz und wird zu 30 Jahren Haft verurteilt. Doch am 8. Juli 1965 gelingt ihm eine spektakuläre Flucht aus dem Londoner Wandsworth-Gefängnis.

Die Flucht ist die beste Publicity für den kurz danach gesendeten Postraub-Dreiteiler „Die Gentlemen bitten zur Kasse“, mit dem Horst Tappert als Bandenchef seine Popularität begründet. Die Serie war ein „Straßenfeger“: 78 Prozent der deutschen TV-Teilnehmer saßen vor den Bildschirmen – das war die bis heute höchste Einschaltquote. In der Schweiz und Österreich war’s ähnlich.

Ronald Biggs

Mit seiner Flucht wurde der charismatische Ronald Biggs zur Symbolfigur des Postraubs. Und es sollte neun Jahre dauern, bis Scotland Yard erfährt, dass der weltweit gesuchte Ganove in Rio de Janeiro das Leben eines Dandys führt. Doch der Krimi ist noch lange nicht zu Ende.

Zwischen England und Brasilien gibt es kein Auslieferungsabkommen. Und: Ronald Biggs’ Geliebte, die brasilianische Stripteasetänzerin Raimunda de Castro, erwartete ein Kind von ihm. Damit durfte er aufgrund der Gesetzeslage nicht aus Brasilien ausgewiesen werden – womit die britischen Behörden keine Chance hatten, an ihn heranzukommen.

Der populäre Räuber

„Ronnie“, wie er in den Medien längst genannt wurde, begann seine Popularität in bare Münze umzusetzen. Er kassierte für Interviews, trat in Werbespots auf, verkaufte Kaffeehäferl und T-Shirts mit „Ronald Biggs“-Aufklebern. Außerdem konnte jeder, der nach Rio kam, für ein Honorar von 60 Dollar mit ihm frühstücken, seine Telefonnummer stand in den Reiseführern. Gerne plauderte der fesche Charmeur mit seinen Besuchern über den Postraub inklusive Flucht.

Biggs spielte in Filmen mit und nahm Alben mit der Band „The Sex Pistols“ und später mit den „Toten Hosen“ auf.

Bis 1981 sein feines Leben an der Copacabana abrupt zu Ende zu gehen schien. Als er von einer Londoner Security-Agentur nach Barbados entführt wurde, die ihn gegen Bezahlung dem Scotland Yard übergab. Doch die Kriminalisten mussten ihn wieder laufen lassen, weil die Festnahme widerrechtlich erfolgt war. Biggs kehrte nach Brasilien zurück.

Im Mai 2001 flog er nach zwei Schlaganfällen überraschend nach England, wobei ihm die Zeitung The Sun – gegen Überlassung der Exklusivrechte seiner Story – den Flug bezahlte. Womit Biggs nicht gerechnet hat: Er wird in London verhaftet.

Haftunfähig

Auch seine schwere Krankheit schützt ihn jetzt nicht vor dem Gefängnis. Erst acht Jahre später, am 6. August 2009, ging er – zwei Tage vor seinem 80. Geburtstag – nach einem weiteren Schlaganfall, der ihm die Sprache nahm, wegen Haftunfähigkeit frei. Heute lebt er in London.

Zwei Gangster starben in der Haft, einer wurde nach seiner Entlassung von Drogendealern erschossen, zwei begingen Selbstmord, drei blieben unentdeckt. Fast in Vergessenheit geraten ist der Boss der Bande, Bruce Reynolds. Er wurde 1968 gefasst und war zehn Jahre in Haft. Danach gelang es auch ihm, von seiner Vergangenheit zu leben: Reynolds schrieb seine Memoiren, arbeitete an Film- und TV-Projekten mit und überreichte Horst Tappert 1998 den Fernsehpreis Telestar, weil der ihn einst so gut dargestellt hatte.

Bruce Reynolds starb heuer im Februar im Alter von 81 Jahren und beriet bis zuletzt die Dreharbeiten der neuen Postraub-Dokumentation. Diese Woche war sein Sohn, der Komponist Nick Reynolds, in Wien (siehe Interview unten), um über seinen Vater zu sprechen.

Nick Reynolds (*1962) ist der Sohn des Banden-Chefs Bruce Reynolds. Er lebt als erfolgreicher Musiker in London und erzählt im KURIER-Interview, wie er die Folgen des Postraubs erlebte.

KURIER: Wie haben Sie erfahren, dass Ihr Vater der Kopf der Posträuber-Bande war?

Nick Reynolds: Er war längst in Haft, ich besuchte ihn regelmäßig, aber dass er mit dem Postraub zu tun hatte, erfuhr ich erst 1975, als ein Buch über den Coup erschienen ist.

Wie sind Sie aufgewachsen?

Wir waren ständig auf der Flucht: Acapulco, Las Vegas, Vancouver, Nizza und wechselten unsere Namen. Als er 1968 verhaftet wurde, öffnete ich den Polizisten die Tür.

Wie viel hat Ihr Vater von der Beute bekommen?

Er erhielt wie jeder Beteiligte 150.000 Pfund.

Haben Sie und Ihre Familie von dem Geld gelebt?

Mein Vater war vor dem Postraub Antiquitätenhändler, danach kaufte er sich mit seinem Anteil der Beute in eine Zigarettenfirma ein und hat bis zu seiner Verhaftung recht gut verdient. Er war ein angesehener Kaufmann, trug Maß-Anzüge und -Hemden, hatte den selben Schuster wie die Queen. Seine Eleganz führte zu dem Titel „Die Gentlemen bitten zur Kasse“.

Er kam 1978 aus der Haft, konnten Sie danach eine Vater-Sohn-Beziehung aufbauen?

Ja, wir hatten eine gute Beziehung, waren uns sehr nahe. Er war ein guter Vater.

Haben Sie mit ihm je über den Postraub gesprochen?

Leider viel zu wenig. Erst als er gestorben war, hatte ich das Bedürfnis dazu.

Hat er seine Tat jemals bereut?

Nein. Er sagte, wenn er jung wäre, würde er es noch einmal tun. Doch es tat ihm leid, dass der Lokführer verletzt wurde. Sein Plan war, dass es keine Gewalt gibt.

War er auf Ronald Biggs eifersüchtig, für den sich die Medien viel mehr interessierten?

Nein, gar nicht. Ronnie ist ein Clown, der sich gut verkaufte. Er war für viele ein Abenteurer, der der Polizei entwischte. Mein Vater wollte nur Ruhe, ging erst 1995 in die Öffentlichkeit, als seine Memoiren herauskamen.

Hatte Ihr Vater nach der Haft Kontakt zu seinen Komplizen?

Sie trafen sich nur noch bei Begräbnissen, wenn einer von ihnen gestorben war. Sonst wollte mein Vater mit jeder Art von Kriminalität nichts mehr zu tun haben.

Der Postraub des Jahrhunderts
Nick Reynolds honorarfrei

Der Großteil der Beute des Postraubs von 1963 ist bis heute verschollen, nur rund 400.000 der 2,6 Millionen Pfund konnten sichergestellt werden. Das eben gedrehte Doku-Drama „Die Gentlemen baten zur Kasse“ fördert anhand jüngst freigegebener Polizei- und Gerichtsakte sowie bisher unbekannter Zeugenaussagen Sensationelles zutage.

So kassierte der Vizechef des Raubdezernats von Scotland Yard, Frank Williams, mindestens 50.000 Pfund der Beute (heute rund eine Million Euro) und verschonte dafür zwei Räuber vor der Verfolgung. Andererseits stellte sich heraus, dass der Druck vonseiten der britischen Regierung, den Fall rasch zu lösen, so groß war, dass Indizien gefälscht wurden und ein Unschuldiger namens Billy Boal verurteilt wurde.Er starb im Gefängnis.

TV-TIPP: Das zweiteilige Doku-Drama zeigt Ausschnitte der legendären Fernsehserie „Die Gentlemen bitten zur Kasse“ mit Horst Tappert, weiters aktuelle Aufnahmen vom Tatort und Interviews mit Tätern und Zeitzeugen: „Die Gent­lemen baten zur Kasse“ von Carl-Ludwig Rettinger läuft am 2. August ab 20.15 Uhr (beide Teile) in ARTE.Am 6. August bringt Servus TV um 20.15 Uhr Teil 1 und am 8. August um 20.15 Uhr Teil 2 .

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