Vom Favela-Kind zum Top-Arzt

Beispiellose Karriere in Rio: Edgar de Andrade gehört heute zu den gefragtesten plastischen Gesichtschirurgen ganz Lateinamerikas
Aufgewachsen in bitterster Armut arbeitete sich Dr. Edgar nach ganz oben.

Sein elegantes Haus liegt mitten im Urwald, in den Bergen hoch oberhalb der brasilianischen Glitzer-Metropole Rio de Janeiro. In der Nähe des noblen Petropolis (838 Meter über dem Meeresspiegel), dort, wo die Sommerresidenz des Kaisers war, hat sich auch Edgar de Andrade angesiedelt. Auf 2,5 Hektar breitet sich das Anwesen des landesweit gefragten plastischen Gesichtschirurgen aus. Zwei Wasserfälle und jede Menge Tropenfrüchte machen das kleine Paradies perfekt.

Der sensible 47-jährige Mann ist angekommen, genießt mit seiner Frau Paula und den beiden gemeinsamen Kindern jetzt ein sorgenfreies Leben. Der Weg dorthin von ganz unten , aus bitterster Armut war aber ein ganz langer und zäher.

Zu wenig zu essen

"Meine Eltern haben sich scheiden lassen, da war ich gerade zwei Jahre alt", erzählt Edgar. Dann sei er zwischen Vater, Mutter und Oma stets hin- und hergeschoben worden, bis er im Alter von fünf Jahren ganz bei der Großmutter in der Stadt Belo Horizonte landete. "Wir hatten ein einfaches Haus – ohne Fließwasser, Strom und Kanalisation. Zu essen gab es fast immer zu wenig", sagt der Mediziner und legt eine Linguiça auf den Rost – die Wurst darf bei keinem brasilianischen Churrasco (Grillfest) fehlen.

Mit sieben Jahren schickte die strenge Großmutter ihr Enkelkind schon zu den Wohlhabenden Wäsche holen, die sie selbst wusch und mit einem alten Kohle-Bügeleisen glättete. "Sie war sehr dahinter, dass ich arbeite. Mit neun musste ich Botengänge erledigen oder Unkraut in Gärten anderer Leute jäten. Das brachte ein bisschen Geld ein. Und meine Oma war froh, dass ich nicht so viel mit anderen Buben kicken konnte. Denn Fußball spielen sei nur für Gauner, meinte sie", schildert der heutige Arzt und lacht.

Überlebenskampf

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Doch schon im nächsten Moment schwindet die Heiterkeit, Edgar steigen Tränen in die Augen: "Ich hatte nie die Kindheit wie viele andere Kinder. Alles war ein einziger Daseinskampf. Mit zwölf – da habe ich schon nebenbei am Bau gearbeitet – bin ich draufgekommen: Mein Leben ist nur traurig." Zu diesem Zeitpunkt wollte er seine Mutter wieder treffen. Eine Nachbarin, "die mir jeden Morgen ein Glas Milch gab, damit ich den Weg in die Schule leichter packe", half dem Buben bei der Suche. "Meine Mutter wohnte in einer Favela (Armensiedlung) nur 15 km entfernt. Und – es ging ihr noch schlechter als mir", sagt der 47-Jährige mit zittriger Stimme. Von da an habe er gewusst: "Ich muss mich aus dieser Lage selber rausholen."

Wendepunkt

Zwei Jahre später erfuhr Edgar von einer Einrichtung der Don-Bosco-Salesianer, die heute von der österreichischen Hilfsorganisation "Jugend Eine Welt" unterstützt wird. Dort erhielten und erhalten junge, bedürftige Menschen eine Berufsausbildung. Und dort lernte der Heranwachsende Pater Raymundo Mesquita kennen, seinen späteren Mentor, mit dem ihn noch immer eine tiefe Freundschaft verbindet. "Ich bekam einen Job als Hausbote bei einer Bank und traf mit vielen gebildeten Menschen zusammen. Das hat meinen Horizont geweitet", beschreibt der Familienvater den ersten Wendepunkt in seinem Leben.

Mit 18 Jahren folgte schon der nächste. Durch Zufall verschlug es den früheren "Office Boy" in ein Zahnlaboratorium, das Herstellen von Prothesen war ab sofort sein Metier und auch seine "große Leidenschaft", wie er hinzufügt.

Trip nach Rio

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Mit 31 Jahren wollte der Zahntechniker in die USA auswandern. Rio, wo er mit umgerechnet nicht einmal fünf Euro in der Tasche ankam, sollte als Sprungbrett dienen. Doch Edgar blieb in der Küstenstadt hängen. Er quälte sich durch die Studienberechtigungsprüfung, inskribierte 1999 in Rio Dentologie und schloss 2003 erfolgreich ab. "Damals habe ich abends und an den Wochenenden gearbeitet, um die Familie durchzubringen und mein Studium zu finanzieren", so der "Herr Doktor", der heute Oldtimer sammelt, die er selbst repariert. Die völlige Hingabe der Sache willen, verbunden mit Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit habe er bei den Salesianern gelernt. Das Diplom schließlich sei in gewisser Weise sein "Schrei nach Freiheit" gewesen, wie er formuliert.

Doch der nunmehrige Zahnarzt wollte noch mehr. Nach zwei gescheiterten Versuchen schaffte er 2007 die Aufnahme für den Uni-Lehrgang Gesichtschirurgie, zu dem nur die Besten der Besten aus ganz Lateinamerika zugelassen werden. Jetzt ist das ehemalige Favela-Kind Teil des exklusiven Zirkels der Top-Gesichtschirurgen Brasiliens – die Vereinigung hat nur 180 Mitglieder.

"Alles, was ich erreichen wollte, habe ich erreicht", sagt der Mediziner und streicht seinem Sohn durchs Haar, "und das allein aus eigener Kraft." Neben akademischen Ehren zählen dazu auch zwei Privatkliniken sowie zwei Apartments in Rio, ein Strandhaus ein paar Kilometer außerhalb der Stadt und natürlich das Haus nahe Petropolis.

"Ich will helfen"

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"Aber ich habe nicht vergessen, woher ich komme. Das Glas Milch, das mir die Nachbarin für den Schulweg gab, ist in meinem Bewusstsein stets präsent – und zugleich Auftrag: Jetzt will ich helfen und anderen Chancen erschließen", erläutert Edgar. Konkret: In der Rio-Favela Jacarezinho will er 2015 eine Zahnklinik eröffnen. Dort sollen nicht nur Behandlungen durchgeführt, sondern auch Kurse zur Ausbildung von Zahntechnikern angeboten werden. "Und die angehenden Fachärzte, meist aus höheren Schichten, sind so auch einmal mit der armen Seite des Landes konfrontiert", weist der Endvierziger auf den gesellschaftspolitischen Aspekt des Projektes hin. Womit sich der Kreis für Edgar schließt – von der Favela in die Favela.

Seine Mutter lebt immer noch in einer. "Ich habe sie schon x-mal eingeladen. Sie kommt einfach nicht. Sie hat keine Ahnung, was ich erreicht habe und wie ich lebe", erzählt er traurig und ringt sich wieder unter Tränen zur bitteren Wahrheit durch: "Was hat meine Mutter für mich getan, außer dass sie mich zur Welt brachte? Nichts. Das ist hart, aber so ist es. Meine Familie waren die Salesianer, mein Vater ist Mesquita, er hat mein Leben geprägt. Dafür bin ich ihm ewig dankbar", sagt der Mann mit dieser einzigartigen Vita, blickt gedankenversunken vom obersten Stock seines Hauses auf das sich vor ihm ausbreitende Blätterdach des Urwaldes und lächelt.

Edgar ist angekommen.

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