Neues Flüchtlingsunglück: "Wir machen unser Mittelmeer zum Friedhof"

Vor Lampedusa kenterte erneut ein Boot mit Flüchtlingen. 50 Personen kamen bei dem Unglück ums Leben.

Acht Tage nach der Flüchtlingstragödie vor Lampedusa mit über 320 Toten, ist vor der süditalienischen Mittelmeerinsel erneut ein Unglück geschehen. Ein Boot mit 250 Menschen an Bord ist 70 Seemeilen süd-östlich von Lampedusa in maltesischen Gewässern in Seenot geraten und umgekippt. Rund 200 der Flüchtlinge konnten gerettet werden. Rund 50 Personen, darunter mehrere Kinder und Frauen, sind ums Leben gekommen. Bisher wurden 34 Leichen geborgen. 22 davon wurden bereits auf Lampedusa gebracht, berichteten italienische Medien. An Bord des Flüchtlingsbootes mit rund 250 Menschen befanden sich mehrere Syrer.

Das Flüchtlingsboot kenterte, nachdem die Migranten ein maltesisches Flugzeug gesichtet hatten. Die Flüchtlinge hatten sich auf einer Seite des Bootes zusammengedrängt, um das Militärflugzeug auf sich aufmerksam zu machen. Angeblich konnten sie auch einen Notruf per Satellitentelefon absetzen. Das Boot geriet dabei ins Schwanken, was Panik unter den Migranten auslöste. Mehrere Flüchtlinge fielen ins Wasser, das Boot kenterte.

Neues Flüchtlingsunglück: "Wir machen unser Mittelmeer zum Friedhof"
epa03906444 A videograb from Malta's Navy shows the first aids after a boat carrying migrants capsized south of Sicily, 11 October 2013. Some 50 migrants, including around 10 children, were reported dead on 11 October after a boat capsized between Malta and Lampedusa, the second such disaster in little more than a week. The number of victims from last week's shipwreck near the southern Italian island rose to 339. The ANSA news agency, which carried the information on the number of victims from the latest accident, said 150 migrants had been rescued by a Maltese boat, while 50 more had been intercepted by an Italian navy vessel. The shipwreck was said to have taken place about 80 nautical miles south-west of Malta and 60 nautical miles south-east of Lampedusa, when passengers caused the boat to overturn as they tried to attract the attention of a passing Maltese patrol aircraft. EPA/MALTA NAVY PRESS OFFICE / HANDOUT BEST QUALITY AVAILABLE HANDOUT EDITORIAL USE ONLY/NO SALES

Die Zahl der Migrantenboote im Mittelmeerraum nimmt weiter nicht ab. Vier Boote mir rund 430 Personen an Bord wurden am Samstag von der italienischen Marine am Samstag evakuiert. Die Migranten wurden unter anderem an Bord der beiden Schiffe der italienischen Marine genommen, die am Freitag die Überlebenden des gekenterten Bootes in maltesischen Gewässern gerettet hatten.

Mali will Staaten-Gipfel

Nach den Flüchtlingsdramen hat der malische Präsident Ibrahim Boubacar Keita einen Internationalen Migrations-Gipfel angeregt. Bei diesem Gipfeltreffen unter Beteiligung der Herkunftsländer und der Aufnahmeländer der Migranten müsse die Gefahr neuer Tragödien gebannt werden, forderte Keita am Samstag in einer Erklärung.

Er zähle auf den guten Willen von Papst Franziskus, der Afrikanischen Union, der Mittelmeer-Anrainer und Europas, fügte Keita hinzu.

"Mittelmeer als Friedhof"

Der italienische Premier Enrico Letta zeigte sich über die neue Flüchtlingstragödie bestürzt. Diese bestätige, dass Europa dringend Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Flüchtlingsströme im Mittelmeerraum ergreifen müsse. Letta telefonierte mit seinem maltesischen Amtskollegen Joseph Muscat. Dieser dankte Italien für die Unterstützung zur Rettung der Überlebenden des Flüchtlingsunglücks. Letta telefonierte nach dem neuen Flüchtlingsdrama auch mit EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy, den er zur Ergreifung von europäischer Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung aufrief.

Auch Malta hat die EU wegen der neuerlichen Flüchtlingstragödie vor Lampedusa zum Handeln aufgerufen. Malta fühle sich von der EU "im Stich gelassen", sagte Ministerpräsident Muscat in einem BBC-Interview. Sein Land werde auf eine Änderung der Einwanderungsbestimmungen für Nahost-Länder drängen. "Bisher hören wir von der EU nur leere Worte", sagte Muscat. "Ich weiß nicht, wie viele Menschen noch sterben müssen, bevor etwas geschieht. Wie die Dinge im Moment stehen, machen wir unser eigenes Mittelmeer zum Friedhof."

Mit "Trauer und Sorge" hat EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström am Freitagabend die Rettungsoperationen verfolgt. An die EU-Staaten appelierte sie, schnell mehr Ressourcen für die europäische Grenzschutzagentur Frontex zur Verfügung zu stellen. Diese seien nötig, um im Mittelmeer in Seenot geratenen Booten Hilfe zu leisten. Die EU-Staaten müssten zudem mehr für die Umsiedlung von Flüchtlingen tun und eine legale Einreise nach Europa ermöglichen. Die Länder Nordafrikas und insbesondere Libyen rief sie dazu auf, strenger gegen Schleuser vorzugehen, "die diese Leute in nicht seetüchtige Boote stecken und diese Reisen in den Tod organisieren".

Papst erschüttert

Auch der Papst reagiert mit Bestürzung. "Herr, sei barmherzig. Zu oft werden wir wegen unserem bequemen Leben blind und sehen nicht diejenigen, die neben uns sterben", schrieb Franziskus auf Twitter. Erst im Juli hatte der Pontifex Lampedusa besucht und die internationale Öffentlichkeit zu einschneidenden Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Migration aufgerufen.

Die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusy Nicolini, zeigte sich wegen des neuen Flüchtlingsdramas vor der Insel erschüttert. "Europa muss endlich etwas unternehmen, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Lampedusa ist zu klein, um allein dieser Situation Stand zu halten", sagte Nicolini.

In Seenot

Allein am Freitag sind vor der italienischen Küste fünf Boote in Seenot geraten. Ein maltesisches Schiff kam am frühen Morgen etwa 200 Immigranten in zwei Schlauchbooten zur Hilfe, die noch in libyschen Gewässern einen Notruf abgesetzt hatten. Insgesamt konnten am Freitag rund 500 Menschen gerettet werden. Mindestens zwölf Flüchtlinge kamen darüber hinaus bei einem Schiffsunglück vor der ägyptischen Stadt Alexandria ums Leben, 116 Insassen konnten gerettet werden. Sie waren auf dem Weg nach Europa. In diesem Jahr sind bereits über 32.000 Migranten über das Mittelmeer nach Italien und Malta gekommen – Hunderte haben ihr Ziel nie erreicht und ertranken.

Letta will Staatsbegräbnis

Indes wird die Suche nach Vermissten nach dem Untergang eines Bootes vor acht Tagen mithilfe von Robotern und Videokameras rund um das Wrack fortgesetzt. Die Zahl der geborgenen Opfer ist inzwischen auf 328 gestiegen. Die Bilanz ist noch immer nicht endgültig. 57 Personen gelten noch als vermisst. Erwogen wird, ob das Wrack aus einer Tiefe von 47 Metern geborgen werden soll. Inzwischen haben mehrere Migranten die Insel verlassen.

Neues Flüchtlingsunglück: "Wir machen unser Mittelmeer zum Friedhof"
epa03900522 A group of migrants is seen at the Lampedusa island's welcome center, in Lampedusa, Italy, 07 October 2013. The search for missing people from the 03 October migrant-boat disaster near the Sicilian island resumed on 07 October with divers recovering 15 more bodies, bringing the death toll to 211 so far. Integration Minister Cecile Kyenge, who visited Lampedusa on 06 October, renewed calls for reform of Italy's tough immigration law, which makes being an undocumented migrant a criminal offence. EPA/FRANCO LANNINO

140 Flüchtlinge, die sich im Auffanglager Lampedusas befanden, wurden an Bord eines Charterfluges in ein Auffanglager in Görz (ital. Goricia) geflogen. Goricia liegt im Nordosten Italiens, direkt an der Grenze zu Slowenien. Weitere 90 Personen erreichten mit einer Fähre den sizilianischen Hafen Porto Empedocle. Weitere 515 Menschen befinden sich noch im Auffanglager der Insel. Premier Enrico Letta hatte am Mittwoch angekündigt, dass ein Staatsbegräbnis für die Todesopfer geplant ist.

Der Zustrom von Flüchtlingen nach Italien ist am Freitag ungeachtet der Schiffstragödie weitergegangen. Innerhalb weniger Stunden kamen Handelsschiffe fünf Flüchtlingsbooten mit zusammen mehr als 500 Migranten an Bord zu Hilfe. Die italienische Küstenwache koordinierte die Rettungsaktionen. Die Flüchtlinge wurden in sizilianische Hafenstädte gebracht, so nach Trapani und Porto Empedocle. Zunächst hatten zwei Schlauchboote mit jeweils mehr als 100 Afrikanern an Bord noch aus libyschen Gewässern mit Satellitentelefonen Alarm geschlagen und dann Hilfe erhalten. Weitere 118 Migranten brachte ein Handelsschiff nach Sizilien.

"Das Mittelmeer ist ein Massengrab für Flüchtlinge"

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Angesichts des "Massensterbens im Mittelmeer" fordert die Menschenrechtssprecherin der Grünen, Alev Korun, eine Änderung der Asylregeln der EU. Künftig sollten Flüchtlinge solidarisch auf alle EU-Staaten verteilt werden, forderte sie am Freitag in einer Pressekonferenz in Wien. Auch Asylanträge in Botschaften im Ausland will sie wieder ermöglichen. Unterstützung erhielt sie von der Grünen Europamandatarin Ulrike Lunacek. Seitens der EU werde immer der Schutz der Verfolgten betont, faktisch habe man aber schon längst die Zugbrücke hochgezogen. Nicht erst seit der Katastrophe vor Lampedusa wisse man, "dass das Mittelmeer ein Massengrab für Flüchtlinge ist", sagte Korun.

Die EU kämpft weiterhin mit einer Strategie, um Flüchtlingstragödien vor Lampedusa künftig zu verhindern. Das Europaparlament stimmte am Donnerstag für das geplante grenzüberschreitende Überwachungssystem Eurosur. Eurosur soll Schlepperbanden grenzüberschreitend bekämpfen und die Rettung von schiffbrüchigen Migranten verbessern. Menschen, die über das Mittelmeer oder die östlichen Außengrenzen rechtswidrig in die EU gelangen wollen, sollen früher entdeckt werden.

Nationale Koordinierungszentren

Die für die Grenzüberwachung zuständigen Behörden würden dann schneller Informationen etwa über den Standort von Flüchtlingsbooten austauschen können. Geplant sind auch nationale Koordinierungszentren, die eng mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex zusammenarbeiten sollen. Das Europaparlament entschied in dieser Frage gemeinsam mit dem Rat, in dem die 28 EU-Staaten vertreten sind.

In einer ersten Phase werden nationale Systeme modernisiert und elektronisch vernetzt, um ein gemeinsames Informationsbild des Grenzgebietes zu erstellen. Dazu sollen auch Aufnahmen von Satelliten und Drohnen genutzt werden. Ein maritimes Meldesystem für das Mittelmeer, Teile des Atlantiks (Kanarische Inseln) und das Schwarze Meer soll später in das Netzwerk eingebunden werden. Die EU-Mitgliedstaaten finanzieren Eurosur gemeinsam über Beiträge für einen "Außengrenzenfonds".

Das System soll bereits in zwei Monaten in EU-Ländern mit Außengrenzen betriebsbereit sein.

Wirksamkeit umstritten

Der Untergang eines Bootes vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa liegt genau eine Woche zurück - mindestens 274 Menschen kamen ums Leben, die meisten davon Flüchtlinge aus Eritrea und Somalia. Doch die Einführung und Wirksamkeit von Eurosur ist umstritten. So kritisierte die Grünen-Abgeordnete und Expertin für Asylfragen, Ska Keller, die Konzentration auf die Abwehr von Flüchtlingen im Mittelmeer. Erst auf Druck der Grünen fordere das Parlament nun, die Rettung von Flüchtlingen in Seenot in die Aufgabenliste von Eurosur aufzunehmen. "Die Schlepper werden durch eine stärkere Überwachung des Meeres trotzdem nicht gestoppt."

Sie sei auch deshalb skeptisch, weil im Zuge des Programms bilaterale Abkommen mit nordafrikanischen Staaten wie etwa Libyen geschlossen würden. Mithilfe von Eurosur würden die dortigen Behörden dann informiert, um die Flüchtlingsboote frühzeitig abzufangen. "Die Drecksarbeit erledigen also andere für die EU", sagte Keller.

"Das vorrangige Ziel sind keine Rettungsaktionen"

Dagegen sagte der stellvertretende Frontex-Direktor Gil Aria zu Reuters, dass Abkommen mit Drittländern im Zuge von Eurosur erst nach einer Erprobungsphase eingeführt werden sollten. Die neuen Instrumente seien vor allem als Plattform zu sehen, mit der die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten verbessert werden soll. "Das vorrangige Ziel von Frontex sind keine Rettungsaktionen, aber natürlich leisten wir im Bedarfsfall Hilfe."

In diesem Jahr seien mithilfe von Frontex rund 16.000 Menschen aus Seenot gerettet worden, vornehmlich vor der italienischen Küste.

Der zeitliche Zusammenhang ist natürlich Zufall: Exakt eine Woche nachdem vor Lampedusa – wieder – ein Boot mit hunderten Flüchtlingen untergegangen ist, beschloss das EU-Parlament in Straßburg eine engere Zusammenarbeit in der Überwachung der Außengrenzen. Während die Abgeordneten votierten, wurden vor Italiens Küste noch immer Leichen geborgen.

Seit fünf Jahren wird in Brüssel am EUROSUR-Projekt gearbeitet; die neuerliche Flüchtlingstragödie unmittelbar vor Abschluss erhöht jetzt die Aufmerksamkeit. Genauer hinzuschauen ist auch dringend nötig.

Der Kern von EUROSUR ist die engere Zusammenarbeit der EU-Staaten in der Flüchtlingspolitik. Das klingt grundsätzlich vernünftig, heißt im Klartext aber vor allem eines: Die Grenzen sollen noch dichter, Flüchtlingsrouten noch genauer überwacht werden.

Das ist Flüchtlingspolitik nach dem „Law and Order“-Prinzip, die zwar im Versuch, Landesgrenzen zu schützen, ihre Berechtigung haben mag, dabei aber nur Teilaspekte behandelt und vor allem eines nicht kann: Flüchtlingsdramen wie jene vor Lampedusa verhindern. Kein noch so strenges Gesetz, keine noch so genaue Überwachung wird verhindern, dass verzweifelte Seelen sich auf der Flucht nach Europa in Lebensgefahr begeben.

Deswegen müssen sich die EU-Staaten nicht nur technisch, polizistisch, sondern auch politisch zu einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik durchringen. Das hieße: Eine gerechtere Verteilung der Flüchtlingslast beschließen. Ein EU-weites effizientes Asylsystem aufbauen. Und nicht zuletzt aufschreien angesichts eines italienischen Gesetzes, das die Hilfe für in Seenot geratene Flüchtlinge unter Strafe stellt. Nein, das ist nicht, wie es in Brüssel dieser Tage oft heißt, eine „nationale Angelegenheit“. Sondern eine Schande für ganz Europa.

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