Klestils verschwundene Rede

Klestils verschwundene Rede
Serie Teil 6: Israel - kein anderes Land ist in den 25 Jahren als KURIER-Außenpolitiker öfter das Ziel von Heinz Nußbaumer.

Mit Bundespräsident Klestil beginnt ein neues Kapitel österreichischer Beziehungen gegenüber Israel. Im November 1994 fliegt er als erstes Staatsoberhaupt seit dem Holocaust zum Staatsbesuch nach Jerusalem. Eine Reise, die nicht brisanter sein könnte, die aber auch Israels Wunsch dokumentiert, das Verhältnis zu Österreich nach Waldheim, Kreisky und anderen heißen Themen zu entkrampfen. Israels gesamte Führung steht bereit, dem neuen Staatsoberhaupt aus Wien die Türen zu öffnen.

Während des Besuchs sind wir eines Abends nach Kiryat Mattersdorf eingeladen, einem Stadtteil von Jerusalem, in dem auch überlebende orthodoxe Juden aus Österreich, vor allem aus dem Burgenland, eine neue Heimat gefunden haben. Thomas Klestil ist recht mulmig zumute, lieber würde er im "King David-Hotel" bleiben und ein wenig krank werden. Er fragt sich und mich: "Wie werden wir dort empfangen werden - nach allem, was war?" Er fürchtet Demonstration. Ich versuche ihn zu beruhigen. Aber die Spannung ist groß.

Das Gebet des Rabbiners

Dann, im untergehenden Abendlicht, erreichen wir Kiryat Mattersdorf. Eine letzte Kurve - und plötzlich ist die Straße taghell. Scheinwerfer tauchen eine Häuserfront - und auch uns - in gleißendes Licht. Hunderte, vielleicht Tausende Strenggläubige drängen sich am Straßenrand, singen und winken. In einer Woge von Wärme werden wir schließlich geschoben, berührt und an den Händen gehalten. Und dann ist da der alte Oberrabbiner, der zwischen Lachen und Weinen diesen einen, für mich unvergesslichen Satz sagt: "Herr Bundespräsident, heute kann ich Ihnen endlich sagen, dass es keinen Abend in meinem Leben gibt, an dem ich mein Abendgebet nicht mit den Worten beende: ,Gott schütze Österreich!'"

Krönung und Abschluss des Staatsbesuchs ist Klestils große Rede vor der Knesset, Israels Parlament. Als Pressechef der Hofburg und Sprecher des Bundespräsidenten bin ich für die Vorbereitung solcher Ansprachen zuständig - die Knesseth-Rede ist die heikelste davon, jedes Wort hat Gewicht. Die Last der Geschichte ist schwer - nächtelang sitze ich vor dem Computer, entwerfe und verwerfe. So vieles ist schon gesagt worden - und so wenig hat wirklich berührt.

Endlich ist der Text geboren. Erleichtert drücke ich auf die Speicher-Taste - und vernichte alles: Irgendwie habe ich ein anderes Dokument über den fertigen Text gespeichert. Verzweifelt beginne ich von vorne und spüre bald: Im Zeichen der Panik ist jede Originalität verloren gegangen. Der Bundespräsident weiß nichts von meinem Drama - er findet sich auch mit dem zweiten Versuch zurecht, Gott sei Dank. Aber das nagende Gefühl in mir bleibt: Es hätte besser, viel besser sein können.

Momente der Panik

Das Protokoll hat die Abläufe auch des letzten Tags unseres Staatsbesuchs genau fixiert: Schon am Vormittag geht unser Reisegepäck zum Flughafen, nur das Handgepäck bleibt in den Zimmern - wir werden es kurz vor der Fahrt zum Parlament abholen. Sorgsam habe ich auch zwei Kopien der Bundespräsidenten-Rede in einer noblen Ledermappe mit Staatswappen bereitgelegt. Jetzt komme ich in mein Zimmer und entdecke: Mappe und Rede sind weg! In 20 Minuten aber muss Thomas Klestil seine große Ansprache halten!

Panisch durchsuche ich jeden Winkel, schaue unter Bett und Schränken - nichts. Ich rufe die Sicherheitsleute, sie zucken mit den Schultern. Mit zitternden Händen wähle ich die Nummer der Hofburg in Wien und fordere per Fax eine Blitz-Kopie an. Dann gehe ich zu Thomas Klestil. Er ist aufbruchsbereit. Mein Satz "Wir haben keine Rede" lässt alle Farbe aus seinem Gesicht schwinden.

Die Sicherheitsleute drängen zum Aufbruch, die begleitenden Regierungsmitglieder stehen ratlos vor Klestils Türe, Diplomaten und Journalisten sitzen schon in ihren Autos, die Motoren laufen. Längst ist der Innenstadtverkehr in Jerusalem gestoppt, ein Wolkenbruch geht über der Stadt nieder - und Israels Fernsehen beginnt eben seine Live-Übertragung. Verzweifelt laufe ich zwischen meinem Zimmer und der Präsidenten-Suite hin und her, aber alle Hektik nützt nichts: Unbeschreiblich langsam läuft die Rede aus dem Faxgerät - 34 Seiten in großen, leicht lesbaren Buchstaben müssen es am Ende sein. Verzweiflung geht in Lähmung über.

Eisige Mienen

Als endlich - wir sind weit über jeder Zeitvorgabe - die ganze Rede vorliegt, will Klestil sie noch einmal lesend kontrollieren. Sie ist ihm zu wichtig, um vor der Knesset einen falschen, unvollständigen Text vor sich zu haben. Dann rasen wir durch Israels Metropole. Vor dem Parlament, an der ewigen Flamme für die Toten der Kriege, wartet die gesamte Staatsführung Israels - Präsident, Premier, Parlamentschef - mit eisigen Mienen. Den Ehrensoldaten läuft das Regenwasser bereits aus den Stiefeln. Der Bundespräsident versucht, die Lage mit Theatralik zu retten: "Man hat mir meine Rede gestohlen", ruft er Israels verdutzter Staatsspitze zu. Die Abgeordneten im Saal empfangen uns frostig.

Als Thomas Klestil zu reden beginnt und mit seinem Satz "Manche der ärgsten Schergen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft waren Österreicher. Diese Verbrechen können durch nichts entschuldigt werden ..." die Menschen in der Knesset und an den Fernsehern zurückgewinnt, da erlebe ich ein bisher unbekanntes Phänomen: Für Sekunden schlafe ich im Stehen ein - das Notsignal eines über den Grenzbereich hinaus belasteten Nervensystems. Übrigens: Klestils Redetexte warten Stunden später auf uns im Flugzeug Richtung Heimat. Irgendjemand hat die Anweisungen des Protokolls nicht gelesen und die Ledermappe frühzeitig zum Airport gebracht.

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