Nach dem Erdbeben: "Ohne Dach über dem Kopf sind wir nur streunende Hunde"

Laut Schätzungen wurden 200.000 Gebäude im Erdbebengebiet beschädigt.

Die 101-jährige Anna Rocco di Paolo hat das Erdbeben überlebt und ihr Dorf Pieve Torina in der Marken das erste Mal in ihrem Leben verlassen. Sie wurde in eine Notunterkunft an die Adria-Küste gebracht und sah zum ersten Mal das Meer. 1915 wurde das Haus ihrer Eltern zerstört, die Signora kam deshalb damals in einem Zelt auf die Welt, berichtet der Corriere della Sera.

Nach dem Erdbeben am Sonntag stehen viele Familien vor dem Ruin. Zu Allerheiligen ist Premier Matteo Renzi mit Ehefrau Agnese zu einem privaten Blitzbesuch nach Preci, das besonders schwer getroffen wurde, gereist. Der Regierungschef versuchte den Erdbeben-Überlebenden Trost zu spenden und sicherte Hilfe zu. Bis Weihnachten sollen Holzhäuser als vorübergehende Unterkunft eintreffen. Am Mittwoch wurde Staatspräsident Sergio Mattarella erwartet.

Schleppende Bürokratie

Doch auf staatliche Hilfe vertrauen hier die wenigsten. Die schleppende Bürokratie erschwert den Menschen einen Neustart. Beschädigte Häuser müssen geprüft werden. "Die Wartezeiten betragen aber Monate, sicher keine Wochen", erzählt ein Betroffener. Die Tragik dieser schweren Erdbebenserie mit Hunderten Nachbeben ist ihre geografische Ausweitung: Das Gebiet erstreckt sich auf 130 Quadratkilometer und betrifft Teile der Regionen Latium, Umbrien, Marken und Abruzzen. Norcia, Macerata, Teramo sind nur einige der bekannten Städte, die getroffen wurden. Um die leer stehenden Häuser vor Plünderungen zu schützen, will das Verteidigungsministerium 500 Soldaten in das Erdbebengebiet schicken. Die Sicherheit von 200.000 Gebäuden im Erdbebengebiet muss geprüft werden. 80.000 Anträge auf Sicherheitskontrollen wurden bei Behörden eingereicht. "Das sind vier Mal mehr als beim Erdbeben in L´Aquila mit 306 Toten im April 2009", sagt Gemeindebundchef Antonio Decaro.

Obwohl die Nachbeben nicht nachlassen, wollen die Agrarbetriebe in der Umgebung von Norcia ihre Produktion wieder aufnehmen. Die Gegend ist unter Gourmets für ihre würzigen Würste und Schinken bekannt. "Wenn wir nicht sofort die Arbeit wieder aufnehmen, ziehen die Menschen weg und diese Region hat keine Zukunft mehr", heißt es unisono.

"Wir wollen nur etwas Normalität, das ist vor allem psychologisch für uns wichtig", sagt Roberto: "Alle Familien brauchen ein Dach über dem Kopf, sonst sind wir nur streunende Hunde. Das ist unsere Priorität." Rodolfo ist mit Frau und seinen drei Kindern in die örtliche Sporthalle übersiedelt. Er denkt keine Sekunde daran, auf Staatskosten in ein Hotel an die Adriaküste zu übersiedeln: "Im Hotel übernachte ich in den Ferien, aber doch nicht jetzt. Wir müssen uns hier um die Arbeit kümmern und bald wieder starten."

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