Erdbeben in L'Aquila: Forscher verurteilt

Erdbeben in L'Aquila: Forscher verurteilt
Die Wissenschaftler hätten die Risiken des Bebens 2009 unterschätzt - sie wurden zu 6 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist umstritten.

Dreieinhalb Jahre nach dem verheerenden Erdbeben im italienischen L`Aquila sind im Strafprozess gegen sieben Wissenschafter am Montag alle Angeklagten zu einer Haftstrafe von sechs Jahren verurteilt worden. Sie wurden auch lebenslang von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Die Anklage warf ihnen vor, die Risiken des Bebens unterschätzt zu haben, bei dem im April 2009 über 300 Menschen umkamen. Die Richter zeigten sich strenger als die Staatsanwälte, die vier Jahre Haft wegen fahrlässiger Tötung gefordert hatten.

Zu den Verurteilten zählen führende Wissenschafter Italiens, wie etwa der ehemalige Leiter des Instituts für Geophysik und Vulkanologie, Enzo Boschi und Ex-Zivilschutzchef Franco Barberi. Die Wissenschafter waren vor dem Beben zu dem Schluss gekommen, dass eine Reihe von vorangegangenen Erdstößen in der Region auf kein erhöhtes Erdbebenrisiko hinweise. Ihre Empfehlungen dienten den Behörden als Entscheidungshilfe.

Die Angeklagten hätten die lange Serie kleiner Beben ohne Schäden ignoriert, die in der Region Wochen vor dem Erdbeben registriert worden waren, und die wachsende Sorge unter der Bevölkerung heruntergespielt, meinten die Staatsanwälte. Die Verteidiger erwiderten, dass Erdbeben unvorhersehbar seien.

Anzeigen von Bürgern

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft von L` Aquila gegen die sieben Experten wurde nach einer Anzeige von 30 Bürgern eingeleitet. Fünf Tage vor dem großen Erdbeben hatte eine Kommission aus Funktionären des Zivilschutzes und Seismologen getagt und den Bürgern erklärt, dass keinerlei Erdbebengefahr bestehe.

Der Erdbeben-Experte Giampaolo Giuliani, Forscher des nationalen Physikinstituts Gran Sasso in der Region Abruzzen, hatte ein Gerät entwickelt, mit dem er Eigenangaben zufolge schwere Erdbeben vorhersehen konnte. Seine wiederholten Warnungen hatte für große Aufregung in der Bevölkerung gesorgt. Er war jedoch von der Staatsanwaltschaft der Stadt Sulmona wegen unbegründeten Alarmierens angezeigt worden. Das italienische Geophysik-Institut hatte seine Prognosen als vollkommen unrealistisch bewertet. Das Institut hatte bekräftigt, dass das Erdbeben in L`Aquila nicht vorhersehbar war.

Entsetzen

Das Urteil hat in Forscherkreisen für Bestürzung gesorgt: "Ich bin entsetzt, das ist ein skandalöses Urteil", sagt etwa Martin Meschede von der Deutschen Gesellschaft für Geowissenschaften in einem Interview auf Spiegel Online. Er ist nicht allein mit seiner Meinung: "Es ist ein politisches Exempel statuiert worden", wird Thomas Braun vom italienischen Geoforschungsinstitut INGV zitiert. "Man wollte offenbar unbedingt Schuldige präsentieren."Er nennt das Urteil im Gespräch mit dem Magazin "absurd", es richte sich gegen die Falschen. "Angebracht wäre es, zu fragen, wer die Häuser gebaut hat, die eingestürzt sind."

Bereits vor dem Prozess hätten zudem mehr als 5000 Wissenschaftler einen offenen Brief an Staatspräsident Giorgio Napolitano gerichtet und sich darüber beschwert, dass den Forschern der Prozess gemacht werde - denn die exakte Vorhersage von Erdbeben sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich sei. Auch international regte sich aus Wissenschaftskreisen Protest.

Der Aufschrei blieb allerdings ohne Folgen. Das Urteil selbst ist allerdings noch nicht rechtskräftig - möglich ist, dass es in nächster Instanz aufgehoben wird.

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