"Endlich kann ich weinen"

"Endlich kann ich weinen"
KURIER-Redakteurin Brigitte R. Winkler war am 11. September in New York. Wie sie den Tag erlebte.

Es ist kurz nach 9 Uhr in der Früh, als mein Schwager Miky anruft: "Ist alles o.k. mit dir?" - "Warum fragst du?" - "Es ist gerade ein Flugzeug in einen der Twin Towers geflogen", erzählt er aufgeregt. Ich denke an einen Unfall und beschließe spontan, zum World Trade Center zu laufen: "Dafür lasse ich die erste Modeschau um 11 Uhr sausen."

Schnell den Fernseher eingeschaltet. Der Empfang im zweistöckigen, denkmalgeschützten Haus in der Water Street, zwischen all den Mammutbauten ringsum im Financial District von New York, war nie besonders gut, jetzt versagt er völlig. Doch das Radio tut seinen Dienst. Seit drei Tagen bin ich wie immer Anfang September wegen der Fashion Week in der Metropole.

In meiner Fantasie sehe ich mich schon die Water Street hinauf bis zur Wall Street eilen, dann über den Broadway zum Einkaufsparadies Century 21. Vom Platz davor würde ich die Twin Towers mit dem darin steckenden Flugzeug gut fotografieren können.

Das Haus bebt

Die Radio-Meldung, wonach ein zweites Flugzeug in die Towers gerast ist, schockiert mich. Tief verunsichert greife ich zum Handy - es funktioniert nicht mehr. Als die Türme einstürzen, bebt das Haus. Jetzt nur nicht in Panik geraten. Was tun? Im Haus bleiben? Wird es auch einstürzen? Wo ist man sicherer: Drinnen oder draußen, wo jetzt ein Aschenregen niedergeht? Ich beschließe, das Haus zu verlassen. Befeuchte ein Tuch, um es mir vor Mund und Nase zu halten.

Vor der Haustür erstarre ich vor Entsetzen. Vom World Trade Center kommend, wankt der Zug der Entkommenen an mir vorbei. Voller Blut, voller Asche, gebückt, schweigend, taumelnd, grauenhaft. Ich reihe mich ein und stolpere mit. Aufgewühlt vom bisher Erlebten, in Furcht vor dem, was vielleicht droht. Ein Lichtblick immer wieder: die Hilfsbereitschaft der New Yorker. Vor ihren geöffneten Haustüren bieten sie uns Wildfremden Wasser und Obst an - und die Benützung ihrer Toiletten.

Ab der 13., 14. Straße löst sich die triste Prozession langsam auf. Wir sind in Sicherheit. Ich betrete ein Café, um mich erst einmal niederzusetzen, entdecke hinter der Theke ein Telefon - Handys funktionierten noch immer nicht - und frage den Chef, ob ich es benützen darf. Ich will endlich meiner Schwester sagen, dass sie sich keine Sorgen machen muss. "Nein", bellt er mich an. Sein Unverständnis hat auch ein Gutes: Endlich kann ich weinen. Wie auf Kommando schießen mir Tränen in die Augen und fließen in Strömen.

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