Eltern und Freunde glauben an „Jahars“ Unschuld
Im Fall der Boston-Attentäter scheint sich Schritt für Schritt das Motiv zu konkretisieren. Der überlebende der beiden mutmaßlichen Täter, der 19-jährige Dschochar Zarnajew, hat laut US-Medien beim Verhör den islamistischen Hintergrund der Tat bestätigt. Die Ermittler suchen weiter nach Anhaltspunkten. Gab es Hintermänner? Wer wusste von den Plänen? Waren weitere Anschläge geplant?
Dazu ist eine Delegation der Moskauer US-Botschaft nach Dagestan gereist. Die dortigen Behörden sagten am Mittwoch, dass Tamerlan Zarnajew bei seinem Besuch in Dagestan 2012 keinen Kontakt zum islamistischen Untergrund gehabt habe.
Die Ehefrau des getöteten 26-jährigen Tamerlan Zarnajew, Katherine Russell, die als Schlüsselfigur der Aufklärung gilt, zeigt sich kooperativ. Die Anschläge und die Rolle ihres Mannes waren für die 24-Jährige ein „vollkommener Schock“, erklärten ihre Anwälte. Sie habe den Behörden ihre Mithilfe zugesichert.
Wie AP berichtete, sollen zudem entfernte Familienmitglieder jetzt von einem mysteriösen Freund Tamerlans erzählt haben. Er heiße Misha und soll ein konvertierter Moslem sein und einen großen Einfluss auf ihn gehabt haben.
Inzwischen wird laut der Nachrichtenseite Debka ein ungeklärter Mordfall aus dem Jahr 2011 näher untersucht. Damals sind drei jüdische Männer mit aufgeschlitzten Hälsen und bestreut mit Marihuana in einer Wohnung in Boston gefunden worden. Die Polizei glaubt nun, dass Tamerlan etwas damit zu tun haben könnte. Einer der Toten, Brendan Mess, war ein enger Freund des Tschetschenen.
Sympathien
Es scheint keinen Zweifel zu geben, dass die Brüder die Boston-Attentate geplant haben. Dschochar Zarnajew hat das laut US-Behörden gestanden. Doch während er sich im Spital von seinen Verletzungen erholt, glauben nicht alle an seine Schuld. Im Internet mehren sich nicht nur Verschwörungstheorien – auch Unterstützungserklärungen, Facebook-Gruppen und eine Petition an den US-Präsidenten für einen fairen Prozess schossen aus dem Boden.
Dschochars Twitter-Account (@J_tsar), der seit 16. April nicht benutzt wurde, zählt mittlerweile rund 100.000 Anhänger. Der Hashtag #FreeJahar liegt im Trend, und Facebook-Gruppen, die Zarnajews Unschuld bekunden, haben Tausende Mitglieder. Einige der Aktivisten sind laut Medienberichten Freunde von Dschochar, viele der Anhänger dürften junge Mädchen sein, denen das Bild des 19-Jährigen gefallen hat.
Mehr als ein Jahr vor dem Anschlag auf den Bostoner Marathon hat der US-Auslandsgeheimdienst CIA beantragt, den mutmaßlichen Attentäter Tamerlan Tsarnaev auf eine Liste von Terrorverdächtigen zu setzen. Die CIA habe Informationen zu Tsarnaev, die es am 28. September 2011 von den russischen Behörden erhalten hatte, an die anderen Sicherheitsbehörden weitergegeben, sagte ein Geheimdienstmitarbeiter am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP. Es habe sich um zwei mögliche Geburtsdaten, seinen Namen und eine Namensvariante gehandelt.
Die Angaben seien "praktisch identisch" mit Informationen gewesen, welche die Bundespolizei FBI im März 2011 aus Russland erhalten hatte, sagte der CIA-Mitarbeiter. Tsarnaev war daraufhin vom FBI vernommen worden, doch hatte das Verhör "keine negativen Erkenntnisse" erbracht. Allerdings wurde er auf die TIDE-Liste gesetzt, die Namen verdächtiger Personen enthält, so dass seine Ausreise nach Russland Anfang 2012 registriert wurde.
Einreise blieb unbemerkt
Wie Heimatschutzministerin Janet Napolitano am Dienstag erklärte, waren allerdings bei seiner Rückkehr fünf Monate später alle Ermittlungen zu ihm beendet, so dass seine Einreise unbemerkt blieb. Der CIA-Mitarbeiter stellte am Mittwoch klar, dass entgegen Berichten von Montag die Daten zu Tsarnaev korrekt und in genau der Form, wie sie aus Russland übermittelt wurden, in der Überwachungsliste eingetragen worden waren.
Der 26-jährige Tamerlan soll mit seinem jüngeren Bruder Dzhokhar am Montag vergangener Woche den Bombenanschlag auf den Bostoner Marathon verübt haben, bei dem drei Menschen getötet und 264 verletzt worden waren. Tamerlan wurde auf der Flucht von der Polizei erschossen, sein 19-jähriger Bruder wurde schwer verletzt gefasst. Die Brüder stammen aus einer muslimischen Familie aus Tschetschenien, lebten jedoch seit Jahren in den USA.
Der New Yorker Polizeichef Ray Kelly sagte am Mittwoch, die beiden Brüder hätten nach dem Anschlag womöglich nach New York fahren wollen, um dort Party zu machen. Der Fahrer, des Wagens, den sie auf der Flucht in Cambridge in ihre Gewalt gebracht hatten, habe in ihrem Gespräch in einer fremden Sprache das Wort "Manhattan" gehört, sagte Kelly. Zudem sei von Party die Rede gewesen. Tamerlan sagte demnach dem Fahrer: "Wir haben gerade einen Polizisten getötet. Wir haben den Marathon in die Luft gejagt. Nun fahren wir nach New York. Mach keinen Ärger."
Der nach dem Bombenanschlag in Boston von der US-Polizei getötete Terrorverdächtige hatte russischen Behörden zufolge keinen Kontakt zum islamistischen Untergrund. Tamerlan Tsarnaev (Zarnajew) habe sich 2012 in der Konfliktrepublik Dagestan im Nordkaukasus aufgehalten, um seinen Pass zu erneuern. Das sagte der dagestanische Innenminister Abdurashid Magomedow am Mittwoch der Agentur Interfax zufolge.
Es gebe keine Hinweise, dass Tsarnaev während seines Aufenthaltes mit radikalen Gruppierungen oder Terroristen in Verbindung gestanden habe, sagte der Minister. Tamerlan ist der Bruder des in den USA angeklagten Verdächtigen Dshokhar Tsarnaev, der schwer verletzt festgenommen worden war. Im Krankenhaus sagte dieser aus, dass die Brüder ohne Hilfe internationaler Terrorgruppen gehandelt hätten.
Die Eltern der beiden mutmaßlichen Terroristen leben Medien zufolge in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala. Dort sei inzwischen die Mutter Subejdat Tsarnaeva von Vertretern der US-Botschaft vernommen worden, wie Menschenrechtler mitteilten.
US-Diplomaten in Moskau bestätigten Interfax, dass Vertreter in den Nordkaukasus gereist seien. Russland hatte den USA sowie den Ermittlern des FBI Hilfe bei der Aufklärung des Terroranschlags auf den Marathon in Boston in der vergangenen Woche angeboten.
Nachbar: "In Religionsfragen war Tamerlan stur"
Durch Befragungen von Bekannten hat das deutsche Magazin Stern versucht, den Motiven der beiden mutmaßlichen Attentäter von Boston auf die Spur zu kommen. Der ältere der beiden soll nach Angaben eines Nachbarn in Religionsfragen besonders leidenschaftlich diskutiert haben. Zudem habe er die Kriege der USA kritisiert, sagte der Deutsche Albrecht Ammon dem Stern.
Ammon (18) lebte direkt unter der Wohnung der Brüder Tsarnaev (Zarnajew), wie das Hamburger Nachrichtenmagazin in einer Vorausmeldung berichtet. Dem Stern erzählte Ammon, dass er vor drei Monaten mit dem älteren Bruder Tamerlan über den Koran und die Bibel diskutierte: "Wir trafen uns in einer Pizzeria. Er hielt mir einen Vortrag über die Kolonialmacht USA, dass sie Unschuldige im Irak und in Afghanistan umbringen. Dann hielt er mir noch einen Vortrag über den Koran und die Bibel. Als ich anderer Meinung war, reagierte er sehr leidenschaftlich, nicht aggressiv, aber stur."
"Gehirnwäsche" durch mysteriösen Bekannten
Der Onkel der Brüder, Ruslan Tsarni, ist laut CNN davon überzeugt, dass ein Bekannter aus Cambridge, Massachusetts, für die Radikalisierung Tamerlans verantwortlich ist. 2009 sei sein Neffe einer „Gehirnwäsche“ unterzogen worden.
Dzhokhar Tsarnaev (Zarnajew) bezichtigt US-Medien-Berichten zufolge seinen Bruder Tamerlan, die treibende Kraft hinter den Anschlägen auf den Boston-Marathon gewesen zu sein. Der Ältere habe sich vom Heiligen Krieg motivieren lassen und den Islam retten wollen. Auch laut dem Onkel war Tamerlan der Anführer der beiden. Tamerlan habe seinen kleinen Bruder für seine Zwecke benutzt, sagte der Onkel zum amerikanischen Nachrichtensender CNN.
Der 19-Jährige muss sich vor einem Zivilgericht wegen des Gebrauchs von Massenvernichtungswaffen verantworten. Ihm droht die Todesstrafe. Bei der Explosion der beiden Sprengsätze im Zielbereich der traditionsreichen Laufveranstaltung waren am Montag vergangener Woche drei Menschen getötet und über 200 verletzt worden.
Die Kriege der USA in Afghanistan und im Irak sollen ein Motiv für den Terroranschlag von Boston mit drei Toten und über 200 Verletzten gewesen sein. Das habe der jüngere der beiden mutmaßlichen Bombenleger während eines Verhörs gesagt, berichteten US-Medien am Dienstag. Der schwer verletzte 19-jährige Dzhokhar Tsarnaev (Zarnajew) habe zudem erklärt, dass er und sein Bruder Tamerlan sich die Informationen zum Bau der Bomben aus dem Internet besorgt hätten.
Dzhokhar Tsarnaev (Zarnajew), der weiter einen Beatmungsschlauch im Rachen trägt, zeige sich in den Gesprächen mit den Ermittlern an seinem Krankenbett in einer Bostoner Klinik kooperativ, hieß es. Weder er noch sein sieben Jahre älterer Bruder Tamerlan, der bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei am vergangenen Freitag ums Leben kam, hätten Kontakt zu ausländischen Terrorgruppen gehabt, soll er gesagt haben. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse lassen darauf schließen, dass es sich um eine Selbstradikalisierung handeln könnte. Ein Regierungsbeamter unterstrich jedoch gegenüber dem Sender CNN, dass die Aussagen des Verdächtigen noch überprüft werden müssten.
Wie es weiter hieß, gehen Ermittler auch der Frage nach, inwieweit die Brüder die Informationen zum Bombenbau dem von der Terrorgruppe Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel auf Englisch im Internet veröffentlichte Onlinemagazin Inspire entnommen haben könnten. Andere Quellen hätten jedoch drauf hingewiesen, dass solche Bombenbauanleitung unter Verwendung von Schnellkochtöpfen auch von anderen Gruppen ins Netz gestellt worden seien, hieß es.
Ehefrau schockiert
Unterdessen brach die Frau des getöteten mutmaßlichen Attentäter ihr Schweigen und sicherte den Ermittlungsbehörden ihre Mithilfe zu. Die 24-Jährige, die 2010 Tamerlan Tsarnaev geheiratet hatte und mit ihm eine dreijährige Tochter hat, ließ am Dienstag von ihren Anwälten Amato DeLuca und Miriam Weizenbaum eine Erklärung verlesen, in der sie mitteilte, sie sei erschüttert, dass ihr Mann und dessen jüngerer Bruder Dzhokhar in den Anschlag verwickelt seien. "Das war ein vollkommener Schock", sagten die in Providence im US-Staat Rhode Island ansässigen Anwälte.
FBI-Befragung
Bei einer Befragung im US-Kongress fühlten inzwischen Parlamentarier Vertretern der Bundespolizei FBI auf den Zahn. Dabei ging es insbesondere um die Frage, wie das FBI den getöteten mutmaßlichen Attentäter Tamerlan Zarnajew, den es vor zwei Jahren bereits wegen mutmaßlicher islamistischer Überzeugungen im Visier hatte, wieder aus dem Blick verlor. Senator Saxby Chambliss aus Georgia sagte allerdings nach der Sitzung, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand: "Ich kann nicht sagen, dass das FBI im entscheidenden Moment versagt hat. Ich sehe jetzt noch keinen, der im entscheidenden Moment versagt hat."
Was wird Dshokar Tsarnaev vorgeworfen?
Der schwerwiegendste Vorwurf lautet auf "Gebrauch von Massenvernichtungswaffen" bei dem Doppelanschlag am Rande des Boston-Marathons, der am 15. April drei Menschen tötete und mehr als 260 verletzte. "Diese Beschuldigung dürfte am ehesten die Todesstrafe nach sich ziehen", sagt der Direktor des Zentrums für Terror-Recht an der St.Mary's-Universität in Texas, Jeffrey Addicott.
Können die Anklagepunkte nachträglich verändert werden?
Ja. "Die Justiz verfasst oftmals eine erste Liste mit Anklagepunkten und fügt bei erfolgreichen Ermittlungen weitere Einträge hinzu", sagt Gregory McNeal von der Universität Pepperdine in Kalifornien. "Etwa dann, wenn Verbindungen zu einer terroristischen Organisation nachgewiesen werden."
Wird die US-Regierung die Todesstrafe fordern?
Diese Entscheidung auf Vorschlag der Bundesanwälte ist Justizminister Eric Holder vorbehalten. Wenn aber "eine Todesstrafe infrage kommt, dann wohl in diesem Fall", schätzt Rosanna Cavallaro von der Suffolk-Universität Boston. Wäre Tsarnaev der Prozess im US-Bundesstaat Massachussetts gemacht worden, wo Boston liegt, wäre die dort bereits abgeschaffte Todesstrafe nicht möglich gewesen. Im Bundesrecht gibt es diese Möglichkeit jedoch noch.
Hängt der Ausgang des Verfahrens von Tsarnaevs Kooperationsbereitschaft ab?
"Die drohende Todesstrafe ist ein sehr mächtiges Instrument, um jemanden zur Kooperation zu bewegen", sagt Cavallaro. Tsarnaev sei "ganz allein, er hat seinen Bruder verloren und ist mit einer langen, langen Liste von Anschuldigungen konfrontiert". Ob die Todesstrafe infrage komme oder nicht, hänge von vielen Faktoren ab: Drückt er Reue aus oder schweigt er? Hat sein älterer Bruder ihn beeinflusst? Haben sie Unterstützung aus dem Ausland bekommen?
Könnte ein Geständnis den Fall abschließen?
Prinzipiell ist es denkbar, dass ein Geständnis des Beschuldigten einen Prozess abwendet, aber die Meinungen dazu gehen auseinander. "Es wäre ein Weg, sich viel Leid zu ersparen", sagt Rechtsexpertin Cavallaro. "Ein Prozess würde frühestens in einem Jahr beginnen, und die gerade verheilten seelischen Wunden würden dann erneut aufgerissen." Ihr Kollege Addicott geht davon aus, dass die Verteidigung versuchen wird, über ein Schuldeingeständnis das Strafmaß auszuhandeln - "aber wegen der Abscheulichkeit des Verbrechens wird die Regierung nicht darauf eingehen."
Wie lange wird das Verfahren dauern?
"Das wird ein langer, sehr langer Prozess, der hunderte Beteiligte in Vollzeit beschäftigen wird", prognostiziert Cavallaro. Nach Ansicht Addicotts dürfte das Verfahren nur "sehr langsam vorankommen, weil die Verteidigung alle möglichen mildernden Umstände geltend machen und die Verlegung des Gerichtsorts beantragen wird, um die Glaubwürdigkeit des Richters zu schädigen".
Wird der Prozess nach Bundesrecht in Boston stattfinden?
"Das ist quasi unmöglich", sagt Cavallaro und verweist darauf, dass praktisch jeder in Boston eine Verbindung zum Anschlag habe. Addicott glaubt indes, der Fall habe schon dermaßen großes internationales Interesse erregt, "dass es keinen Ort auf der Welt geben wird, an dem man nicht schon davon erfahren hätte".
Wann könnte im Falle eines Schuldspruchs eine Hinrichtung folgen?
"Jedenfalls nicht in der näheren Zukunft", sagt Richard Dieter vom Informationszentrum zur Todesstrafe in Washington. Zumal bei einem Einspruch erneut "Jahre ins Land gehen würden". Seit 1976 seien 60 Todesurteile nach Bundesrecht verhängt, aber nur drei davon bisher vollstreckt worden.
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