Zarnajews: Verwirrung um Spur nach Österreich
Verwirrung löste ein Bericht der Kronen Zeitung aus, wonach sich der in Boston getötete Attentäter Tamerlan Zarnajew 2007 und 2009 bei Boxsportveranstaltungen in Österreich aufgehalten habe. Das Innenministerium kann das nicht bestätigen. Bei dem Anschlag auf den Boston-Marathon am Montag vergangener Woche starben drei Menschen, 180 wurden verletzt.
Der Hintergrund: In Graz waren zwei Tschetschenen bei der Polizei erschienen. Sie behaupteten, entfernte Verwandte der Zarnajews zu sein. Per Skype hätten sie einen losen Kontakt gepflegt, etwa ein Gespräch pro Jahr. Und da habe Tamerlan behauptet, dass er bereits zwei Mal in Österreich gewesen sei. Nämlich anlässlich eines Box-Kampfes für ein Wochenende in Innsbruck und im Rahmen eines Boxtrainingslagers in Salzburg.
Für die angeblichen Aufenthalte des Tschetschenen in Österreich konnte der Verfassungsschutz zunächst keine Anhaltspunkte finden. Karl-Heinz Grundböck, Sprecher des Innenministeriums, zum KURIER: „Die Informationen aus der Community werden überprüft. Ein Aufenthalt des Herrn Zarnajew kann aber derzeit nicht bestätigt werden.“ Hat der Hobby-Boxer beim Skypen nur angegeben?
Zu ähnlichen Ergebnissen führt ein Rundruf des KURIER bei Box-Sportfunktionären. „Der Mann war definitiv nie in Tirol für einen Boxkampf gemeldet – und schon gar nicht im genannten Zeitraum“, ist sich Hansjörg Weitenbacher vom Boxring Innsbruck sicher. „Vielleicht hat er einmal bei einem Training zugeschaut.“ Weitenbacher beruft sich auch auf die EDV-Kartei des Vizepräsidenten des Österreichischen Boxverbandes, Rainer Salzburger. „In der Kartei gibt es weder einen Hinweis auf einen Kampfpass des Tschetschenen, noch auf eine Anmeldung für einen Kampf und auch keinen Beleg für eine ärztliche Untersuchung.“
Auch Arbi Chakaev, Mitglied des österreichischen Nationalteams der Boxer, und gebürtiger Tschetschene, winkt ab. Er kenne den Boston-Attentäter, der in der gleichen Gewichtsklasse wie Chakaev in den USA geboxt hat, nicht. Weitenbacher: „...Dabei kennen sich die Tschetschenen untereinander. Noch dazu sind sie in der gleichen Gewichtsklasse – und Tschetschenien ist etwa ein so großes Land wie Tirol.“
Auch Gerhard Roitmayer von der Boxunion Salzburg winkt ab: „Ich habe alle Anträge auf Kampfpässe durchgeschaut. Er ist nicht dabei. Ein internationales Traininingslager gab es in der Zeit nicht.“ Zarnajew könnte höchstens inoffiziell bei einem Verein mittrainiert haben.
Eine missverständliche APA-Meldung sorgte für Verwirrung, wonach sich der Salzburger Trainer Hermann Heim an Zarnajew erinnere. Der dementiert: Es hätten wohl Tschetschenen in Salzburg geboxt, Zarnajews Name sei aber nicht dabei gewesen.
Innenministerin Johanna Mikl-Leitner warnt: „Weder eine naive Verneinung eines möglichen Risikos, noch eine populistische Dramatisierung werden der aktuellen Lage gerecht.“ In Österreich leben fast 26.000 Tschetschenen. Es gebe keinen Grund für die Überprüfung aller, heißt es dazu im Ministerium. Ethnic Profiling werde abgelehnt.
Tamerlan war Anführer
Unterdessen beantwortet Tamerlans Bruder Dschochar, dessen Zustand sich bessert, Ermittler-Fragen am Krankenbett per Kopfnicken und schriftlich. Er soll seinen älterern Bruder als Drahtzieher der Anschläge bezeichnet haben, der so „den Islam schützen wollte“. US-Kriege in Afghanistan und Irak sollen sie zur Gewalt bewegt haben. Hintermänner gebe es keine. Anleitungen für die Bomben stammen aus dem Internet.
Dschochar Zarnajew, der jüngere der Boston-Attentäter, hat indes im Krankenhaus erste Auskünfte erteilt – schriftlich, da er wegen Kopfverletzungen nicht sprechen kann. Wie CNN unter Berufung auf eine Quelle aus Ermittlerkreisen berichtet, soll er dabei seinen Bruder als den Hauptverantwortlichen bezeichnet haben – Tamerlan Zarnajew, der bei der Verfolgungsjagd in Boston getötet wurde, sei die treibende Kraft hinter Planung und Ausführung des Anschlags gewesen. Auch die Motivation der beiden sei Thema gewesen, berichtet der Sender – der 19-Jährige habe erklärt, sein Bruder habe mit der Tat den Islam verteidigen wollen. Er habe ohne Unterstützung anderer gehandelt, internationale Terrororganisationen würden also nicht hinter dem Attentat stecken.
Die Anklageschrift wurde dem jüngeren Bruder am Krankenbett verlesen – dabei sei er "wach, mental aufnahmefähig und bei klarem Verstand" gewesen, gab Richterin Marianne B. Bowler zu Protokoll. Er habe sich durch Nicken mit ihr verständigt. Zarnajew wird sich vor einem Zivilgericht wegen des Gebrauchs von Massenvernichtungswaffen verantworten müssen. Anfangs war von der Einstufung als „feindlicher Kämpfer“ die Rede, davon ist man mittlerweile abgekommen – dadurch hat der 19-Jährige das Recht auf einen Anwalt. Der Prozess soll am 30. Mai beginnen, berichtet CNN. Sollte Zarnajew schuldig gesprochen werden, kann laut der Behörde die Todesstrafe oder eine lebenslange Haftstrafe gegen ihn verhängt werden.
Mit Tippfehler durch Raster gerutscht
Bekannt wurde auch, dass ein simpler Rechtschreibfehler möglicherweise eine rechtzeitige Überprüfung der Brüder verhindert hat. Tamerlan, der ältere der beiden mutmaßlichen Täter, habe wegen eines falsch buchstabierten Namens unbemerkt nach Russland reisen können, sagte der republikanische US-Senator Lindsey Graham am Montag. "Wir wissen nicht, ob er ihn selbst falsch buchstabiert hat", sagte der Senator - oder ob es die russische Fluggesellschaft Aeroflot war, mit der Zarnajew einst flog.
Die Ermittlungen konzentrieren sich nun auf eine knapp sechsmonatige Reise, die Tamerlan Zarnajew im Jahr 2012 in die russische Kaukasusrepublik Dagestan führte. Dort sei er "mindestens vier Mal ins Visier der Sicherheitskräfte geraten", erfuhr die Nachrichtenagentur AFP von örtlichen Behördenvertretern. Grund waren Treffen mit einem jungen Mann, der Verbindungen zur islamistischen Untergrundbewegung unterhielt.
Tatablauf rekonstruiert
Dschochar Zarnajew soll für den Tod von drei Menschen und die Verletzungen von mehr als 180 weiteren zur Verantwortung gezogen werden, teilte US-Generalstaatsanwalt Eric Holder in Washington mit. Außerdem wird er für die Zerstörung, die die Bomben am 15. April im Zielbereich des Marathons angerichtet haben, gerade stehen müssen. Laut Anklageschrift - hier nachzulesen - habe das FBI anhand des sichergestellten Video- und Fotomaterials den Tatablauf rekonstruiert.
Am Montag gegen 14.38 Uhr, elf Minuten vor der ersten Explosion, seien die mutmaßlichen Täter von der Gloucester in die Boylston Street eingebogen; beide hätten dabei große Rucksäcke getragen. Während Tamerlan der Straße in Richtung Ziellinie, dem Ort der ersten Explosion, gefolgt sei, sei sein Bruder vor einem Restaurant stehen geblieben – dort, wo die zweite Bombe detonierte. Auf dem Material sei zu sehen, wie er seinen Rucksack abstelle und auf sein Handy schaue - 30 Sekunden vor der ersten Explosion soll er das Telefon ans Ohr gehalten haben.
Danach sei die Reaktion der Menschenmassen auf die erste Explosion deutlich zu erkennen – während alle auf den Zielbereich gestarrt hätten, habe Tamerlan Zarnajew sich vom Zieleinlauf wegbewegt. Kurz danach ist die zweite Bombe hochgegangen.
Nachdem die Zarnajew-Brüder auf dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) einen Polizisten erschossen hatten, kaperten sie einen Pkw und zwangen den Lenker, loszufahren. Der Mann erzählte nun dem FBI die dramatischen Momente.
Einer der Boston-Bomber hatte sich demnach dem Wagen genähert und auf der Beifahrerseite gegen die Scheibe geklopft. Als der Fahrer das Fenster herunterließ, griff ein Terrorist ins Wageninnere, öffnete die Türe und sprang in den Pkw.
Dann hielt er dem geschockten Lenker eine Pistole vor das Gesicht. „Hast du von den Boston-Anschlägen gehört? Ich habe das getan“, sagte ein Zarnajew-Bruder. Und weiter: „Ich meine es ernst.“
Der Lenker wurde genötigt, Gas zu geben und den zweiten Attentäter abzuholen. Anschließend nahmen die Täter dem Mann, der schließlich bei einer Tankstelle fliehen konnte, 45 Dollar in bar und die Kreditkarte ab – den Code musste er ihnen ebenfalls verraten.
Später lokalisierte die Polizei den Wagen in Watertown. Als sie die Verfolgung aufnahm, warfen die Zarnajews improvisierte Sprengsätze aus dem Auto. Bei der darauffolgenden Schießerei wurde Tamerlan Zarnajew von Kugeln förmlich durchsiebt, er starb. Seinem Bruder Dschochar gelang zunächst die Flucht.
Das Boxen hatte er aufgegeben, weil es nicht dem Islam entspreche, einem Mann ins Gesicht zu schlagen. Das war in jener Zeit, da es still wurde im Hinterhof des Hauses der Zarnajew-Brüder. Als plötzlich keine Partys mehr gefeiert wurden. Schluss mit Grillen, Bier und Zigaretten.
Nachbarn erinnern sich, dass sich etwas verändert hatte. Die Mutter der Familie, Subeidat Zarnajewa, begann sich zu verschleiern. Anscheinend hatte sie selbst Tamerlan motiviert, sich vermehrt mit dem Islam auseinanderzusetzen, aus Sorge, der geliebte Sohn könne in Drogen-, Alkohol- und Mädchengeschichten versinken. Dann der Bruch zwischen ihr und dem Familienvater Ansor, dem die religiösen Regungen in seiner Familie augenscheinlich missfielen.
Später gingen beide Elternteile getrennt voneinander wieder in den Kaukasus. Zurück blieben Tamerlan und sein jüngerer Bruder Dschochar. In einem Land, das zumindest dem Älteren der beiden immer fremd geblieben zu sein scheint.
Ein Land, das der große Traum des Vaters gewesen war. Eine Nachbarin aus der kirgisischen Stadt Tokmok, wo die Zarnajews lebten, erinnert sich, dass immer klar gewesen sei, dass die Familie nach Amerika wollte. Auch, wenn der Vater damals eine gute Stelle bei der Staatsanwaltschaft innehatte. Und auch, wenn die Wahl des Namens Dschochar für seinen jüngsten Sohn 1993 auf ausgesprochene Sympathie für die tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung hindeutet. Die tschetschenische Republik wurde damals von Dschochar Dudajew geführt, der 1996 bei einem Luftangriff getötet wurde.
1999 zogen die Zarnajews auch nach Tschetschenien. Aber nur kurz. Noch im selben Jahr folgte die Flucht vor dem Krieg nach Dagestan. 2002 gehen sie in die USA.
Sollte Familienvater Ansor einen „Amerikanischen Traum“ gehabt haben, so hat er sich nicht erfüllt. Der Jurist schlägt sich mit Autoreparaturen durch. Die Mutter arbeitet in einem Schönheitssalon, kündigt aber später aus religiösen Gründen. Die zwei Söhne und zwei Töchter der Familie gehen zur Schule. Tamerlan macht Berufskurse und bricht sie wieder ab. Eine Freundin zeigt ihn wegen Körperverletzung an. Dann wird ein enger Freund ermordet. Er betreibt Sport, boxt in einem renommierten Club in der Umgebung – und das erfolgreich. Trainiert wird er vom Vater, der in Rage gerät, als der Sohn den Boxsport schmeißt.
Kollegen aus dem Boxklub beschreiben Tamerlan als „großspurig“ und „irgendwie arrogant“. Er sei aufgekreuzt, als stünde er auf einem Laufsteg, mit silbernen Schuhen und zurückgeworfenen Haaren wie John Travolta. Seine Schuhe sollten einige Jahre später, 2012, auch Bekanntschaften in Dagestan in Erinnerung bleiben, als Tamerlan ein knappes halbes Jahr dort war. Als der „Amerikaner mit den tollen Schuhen“ galt er dort.
Zwar war er schon zuvor mit immer radikaleren Ansichten aufgefallen. Aber nach dieser Reise war alles schlagartig anders. Da blieb es dann endgültig still im Innenhof des Hauses der Familie. Tamerlan beginnt Streit mit Muslimen in der Umgebung, die seiner Ansicht nach zu westlich leben. So greift er etwa den Besitzer eines Ladens für nahöstliche Spezialitäten an, weil dieser auf einem Plakat für Truthähne für Thanksgiving wirbt.
Das alles, während sein kleiner Bruder Dschochar, dem jetzt die Todesstrafe droht, aufgeweckt durchs Leben schlendert. Ein Musterschüler, der mit Freunden und Freundinnen zum Abschlussball geht, sich an der Uni einschreibt. „Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals etwas Böses gesagt hätte“, sagt eine Schulfreundin. In Gegenwart des großen Bruders aber bleibt er still.
Ansor Zarnajew erhält Ende 2011 nach der Trennung von seiner Frau knapp vor seinem Verlassen der USA Besuch vom FBI. Es geht um Tamerlan. Die Beamten berichten, dass sie dessen Internet- und Telefonverbindungen scannen. Ansor sagt: „Genau das sollten sie auch tun.“
Am 15. April 2013 ruft Subeidat Zarnajewa ihren Sohn Tamerlan an, um zu fragen, ob es ihm nach den Anschlägen auf den Marathon auch gut geht. Tamerlan sagt: „Mama, warum machst du dir Sorgen?“ Tage später ruft Tamerlan seine Mutter an: „Die Polizei schießt auf uns, sie jagen uns.“ Pause: „Mama, ich liebe dich.“ Dann bricht die Verbindung ab.
Die „Miranda-Rechte“ gelten im US-Justizsystem als wichtige Grundlage für einen fairen Prozess. Sie besagen u. a., dass jeder Verdächtige vor einer Befragung über sein Recht zu schweigen und über sein Recht auf anwaltlichen Beistand beim Verhör informiert werden muss. Diese Regelung geht auf das Miranda-Grundsatzurteil aus dem Jahr 1966 zurück. Damals wurde das Geständnis des Angeklagten Ernesto Miranda nicht vor Gericht zugelassen, weil er zuvor nicht auf das Recht zu schweigen hingewiesen worden war.
AusnahmeregelungDie „Miranda-Rechte“ können ausgesetzt werden, wenn der Festgenommene als „feindlicher Kämpfer“ eingestuft wird oder wenn Terror-Gefahr besteht.
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