Ist Attentäter Vorläufer eines Mega-Anschlags?
Und wieder ein französischer Terrorist“, titelte das Massenblatt „Parisien“ nach der Festnahme von Mehdi Nemmouche, dem mutmaßlichen Schützen, der am 24. Mai 2014 im jüdischen Museum von Brüssel drei Personen getötet und eine schwer verletzt hatte. Frankreichs Öffentlichkeit beschäftigt sich jetzt prioritär mit zwei Fragen: Machen die französischen Gefängnisse aus jungen kriminellen Vorstädtern islamistische Terroristen? Und besteht die „reale Gefahr eines europäischen 11. Septembers“, also eines Mega-Anschlags, wie der französische Al-Kaida-Spezialist Jean-Pierre Filiu in einem Interview mit dem Pariser Blatt „Liberation“ mutmaßt?
Nemmouche war am Freitag in einem aus Amsterdam und Brüssel kommenden Linien-Bus in Marseille eher zufällig Zollfahndern, die nach Drogen suchten, in die Hände gefallen. In seinem Gepäck hatte Nemmouche die Waffen und die Kappe, die auch bei dem Attentäter von Brüssel gesichtet wurden. Dazu ein weißes Tuch mit den Initialen der Dschihadisten-Gruppe ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) und eine Kamera mit einem kurzen Bekennerstreifen zu dem Anschlag von Brüssel.
Gebet im Gefängnishof
Nemmouche hüllt sich zwar seit seiner Festnahme in Schweigen, sein Werdegang steht aber fest: er wurde vor 29 Jahren im nordfranzösischen Industrierevier Tourcoing-Roubaix geboren, und kam ab dem dritten Lebensjahr, so wie seine zwei Geschwister, in die Obhut ständig neuer Pflegefamilien, weil seine alleinstehende algerische Mutter (der Vater hatte sie verlassen) überfordert war. Als 17-Jähriger wurde er von seiner Großmutter in ihrer Wohnung in einer Arbeitersiedlung aufgenommen. Er galt bei Nachbarn als intelligent und höflich, scheiterte aber bei seiner Ausbildung zum Elektrotechniker. Gleichzeitig schlitterte er in die ortsübliche Jugendkriminalität, beging Autodiebstahlen und wurde eines bewaffneten Überfalls auf einen Billigwaren-Laden beschuldigt – eine Tatbeteiligung, die er stets geleugnet hatte. Als Wiederholungstäter saß er eine fünfjährige Strafe ab, in deren Verlauf er sich einer radikal-islamischen Gruppe anschloss, die im Gefängnishof Freiluft-Gebete durchzusetzen versuchte.
Drei Wochen nach seiner Haftentlassung im Dezember 2012 startete er eine Odyssee, die ihn über Großbritannien, den Libanon und die Türkei bis in die Lager der ISIS-Dschihadisten in Syrien führte. Dort verbrachte er eineinhalb Jahre, bevor er im vergangenen März über Frankfurt nach Europa zurückkehrte.
Schnittstelle zwischen Kriminalität und Dschihad
Dieser Lebenslauf ähnelt bis hin zu den zerrütteten familiären Verhältnissen (ein abgängiger Vater, eine überforderte Mutter) dem Werdegang von Mohamed Merah. Auch dieser junge, in Südfrankreich aufgewachsene Franko-Algerier hatte sich nach kriminellen Aktivitäten im Gefängnis religiös radikalisiert, war nach Pakistan gereist und hatte sich dort der Al Kaida angeschlossen. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich hatte er im März 2012 erst drei Soldaten und anschließend drei Kinder und einen Lehrer in einer jüdischen Schule in Toulouse erschossen. Merah kam nach einer Belagerung durch die Polizei bei einem Schusswechsel um. Wie Merah und Nemmouche bewegt sich eine unbestimmte Zahl junger Franzosen, aus muslimischen Familien aber auch Konvertiten, an der Schnittstelle zwischen Kriminalität und Dschihad-Indoktrination.
Dass ein beträchtlicher Teil dieser jungen Leute beim ISIS landet, der extremsten Bewegung unter den in Syrien operierenden Dschihadisten, veranlasst den Politologen Jean-Pierre Filiu zu seiner dramatischen Warnung. Der ISIS kämpft vornehmlich gegen die übrigen Oppositions-Bewegungen in Syrien und unterwirft in den wenigen, von ihm kontrollierten Ortschaften die syrische Bevölkerung einer besonders grausamen, religiös verbrämten Tyrannei.
Kampf ums Schreckensprestige
Laut Filiu strebt der ISIS-Führer Abu Bakr al Baghdadi nach einer absoluten Vormachtstellung als „Chef des weltweiten Dschihads“. Er will die übrigen radikal-islamischen Führer an Schreckensprestige überbieten und namentlich Ayman Al Zawahiri, der bisher in der sunnitischen Dschihadisten-Szene als Nachfolger des Al Kaida-Gründers Ben Laden galt, übertrumpfen. Dazu gehöre die Organisierung eines „Monster-Attentats“ in einem westlichen Land, wozu „Al Kaida seit einem Jahrzehnt nicht mehr imstande war“, erklärt Filiu. Die USA seien vergleichsweise besser geschützt als Europa. Dabei wären die zahlreichen aus Europa stammenden jungen Menschen, die der ISIS rekrutiert habe, höchst nützlich, um einen derartigen Anschlag nach ihrer Rückkehr nach Europa durchzuführen: „Baghdadi will die Muslime Europas praktisch zu Geiseln einer Situation machen, in der die rechtspopulistischen Parteien wachsen, der Hass zunimmt und etwaige Repressalien nach einem Anschlag die Radikalisierung eines Teils der jungen Muslime fördern“.
Unterdessen sind die französischen Behörden auf der Suche nach etwaigen Komplizen von Nemmouche. Am Montag wurden vier Personen aus der französischen Dschihadisten-Szene festgenommen und die Wohnungen von Verwandten von Nemmouche durchsucht. Außerdem konzentrieren die französischen Anti-Terror-Ermittler ihre Recherchen auf jene Gefängnisinsassen, die seinerzeit Nemmouche für ihren radikal-islamischen Kreis in der Haftanstalt rekrutiert hatten.
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