Es war der 22. Juni 1983, als die 15-jährige, Tochter eines Vatikan-Angestellten, nach einer Musikstunde in der Basilika Sant’ Appollinare spurlos verschwand. Vierzig Jahre lang hatte der Vatikan sich geweigert, den römischen Staatsanwälten bei der Aufklärung zu helfen.
Jetzt aber scheint der Kirchenstaat es ernst zu meinen. Pietro Orlandi wurde diese Woche zum Staatsanwalt des Heiligen Stuhls als Zeuge geladen. Über sieben Stunden dauerte das Treffen.
Am Ende zeigte sich Orlandos Rechtsanwältin Laura Sgrò verhalten hoffnungsvoll. „ Ich denke, der Staatsanwalt wird sich jetzt mit dem Schreiben das wir ihm ausgehändigt haben und den anderen Dokumenten intensiv beschäftigen.“ Der Staatsanwalt wiederum versicherte in einem Interview: „Was den Fall Orlandi betrifft, wollen Papst Franziskus und Staatssekretär Pietro Parolin, dass die ganze Wahrheit an Licht kommt.“
Dunkle Machenschaften
Der Fall Orlandi gehört zu den größten und bis vor Kurzem streng behüteten Mysterien des Kirchenstaats. Viele erinnern sich an Berichte über dunkle Machenschaften rund um das Verschwinden des Mädchens.
Grab geöffnet
Der Fall Orlandi nährte unzählige Gerüchte und Verschwörungstheorien. Es war die Rede von kriminellen Verwicklungen, von Schwarzgeldern der Vatikanbank IOR, von Erpressungen und auch von einem Pädophilie-Delikt. Immer wieder tauchten Dokumente auf, oder verschwanden, sogar ein Grab in der Basilika Sant“ Appollinare wurde geöffnet, weil es hieß, darin befänden sich die sterblichen Überreste des Mädchens.
Die Geschichte ist so verworren und verstrickt, dass Netflix daraus eine vierteilige „True-Crime-Story machte mit dem Titel „Vatican Girl“. Zu sehen ist sie seit Ende Oktober.
Ob die Wahrheit ans Licht kommt, kann man noch nicht beantworten. Weswegen sich Medien und Vatikanexperten mit einer anderen Frage“ beschäftigen: „Warum jetzt? Oder noch genauer: Warum hat sich Papst Franziskus so kurz nach Ratzingers Tod entschlossen öffentlich mitzuteilen, dass der Vatikan-Ermittlungen zu diesem Fall aufnehmen wird. In einem Fernsehinterview kurz nach dieser Meldung erzählte Rechtsanwältin Sgrò, dass sie schon vor einem Jahr ein Schreiben aus dem Vatikan erhalten habe, in dem es hieß, man solle sich bitte an den Staatsanwalt wenden. „Der weigerte sich jedoch uns zu treffen.“
In hohen Positionen
Für Pietro Orlandi liegt die Antwort auf die Frage – warum jetzt? – auf der Hand. Er sei sich sicher, „dass es im Vatikan viele Leute gibt, auch in hohen Positionen, die wissen, was damals passiert ist.“ Darunter, seiner Meinung nach auch der verstorbene Papst Benedikt XVI. und sein Privatsekretär Georg Gänswein.
Andrea Affaticati, Mailand
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