Jede dritte Nonne wurde missbraucht
Nach der Matura wollte Doris Wagner ihr Leben Gott schenken. Sie trat in die strenge geistliche Familie „Das Werk“ mit etwa 100 Schwestern und 30 Brüdern und Priestern in das ehemalige Dominikanerinnen-Kloster Thalbach in Bregenz ein und wurde dort zunächst „spirituell und dann sexuell missbraucht“, wie die Deutsche sagt.
Erst nach acht Jahren gelang es der jungen Frau, sich zu befreien. Sie studierte Theologie und Philosophie, lernte ihren Mann kennen, wurde Mutter und Buchautorin und lebt heute in ihrer Heimat Oberfranken. Und doch trägt sie immer noch schwer an dem Erlebten.
Doris Wagner-Reisinger hat Papst Benedikt und Papst Franziskus auf das Missbrauchsthema aufmerksam gemacht. Beharrlich, seit 2011. Am Dienstag hat Franziskus den Missbrauch von Nonnen durch Priester und Bischöfe eingeräumt.
Franziskus: "Immer noch" Problem
Auf dem Rückflug von Abu Dhabi nach Rom sagte Papst Franziskus den mitfliegenden Journalisten: „Es stimmt, es ist ein Problem. Ich weiß, dass Priester und auch Bischöfe das getan haben. Und ich glaube, es wird immer noch getan“, bekannte der Papst. Das sei keine Sache, die einfach so aufhört, sie gehe so weiter. In der Vergangenheit habe es laut Franziskus sogar Fälle von „sexueller Sklaverei“ durch Geistliche gegeben.
Doris Wagner war eine Sklavin in der katholischen Kirche. Die junge Ordensschwester musste tagtäglich in der Küche Gemüse schneiden, persönliche Gespräche unter den Schwestern waren nicht gewünscht, jede für sich vereinsamte. Und akzeptierte seelische Grausamkeiten.
Verlust sozialer Kontakte
Doris Wagner durfte ihre Eltern nicht mehr sehen, verlor über die Jahre alle sozialen Kontakte und auch die Fähigkeit dazu. Es gab ja auch kein Briefgeheimnis.
Erst in der Vorwoche sorgte der Rücktritt des österreichischen Paters Herrmann G. für Schlagzeilen. Dem hochrangigen Vertreter der römischen Glaubenskongregation wird Vergewaltigung vorgeworfen.
Schönborn berichtet von Belästigung
Kardinal Christoph Schönborn traf sich mit Doris Wagner, beide Seiten sahen dringenden Handlungsbedarf. Der mehrstündige, sehr persönliche Gedankenaustausch fand in einem Studio des Bayerischen Rundfunks statt und wird am heutigen Mittwoch in der Sendereihe DokThema ausgetrahlt.
Schönborn lässt dabei, wie vorab bekannt wurde, nicht nur Selbstkritik an den kirchlichen Strukturen durchklingen, sondern erzählt auch, wie er in seiner Jugend selbst von einem Pfarrer belästigt worden sei.
30 Prozent aller Nonnen
Mit seiner öffentlichen Selbstanzeige im Namen der katholischen Kirche löst Franziskus nun jedenfalls ein Beben aus. Noch nie zuvor hat ein Pontifex so offen über sexuellen Missbrauch gegenüber Ordensfrauen gesprochen. Laut Schätzungen wurden 30 Prozent aller Nonnen Opfer von sexuellem Missbrauch durch Ordensbrüder und Priester.
Papst Franziskus hat für Ende Februar eine Missbrauchs-Konferenz im Vatikan einberufen. Mit Vertretern der Bischofskonferenzen will er über den weltweiten Missbrauch in der katholischen Kirche vor allem gegenüber Kindern und Jugendlichen, aus aktuellem Anlass aber auch gegenüber Frauen, sprechen. Dabei geht es um die Frage, wie Missbrauch in katholischen Kreisen künftig verhindert werden kann.
Hinter den Kulissen, so ließ der Papst durchblicken, arbeite man seit langem an einer Lösung für das Problem, das „einige Kulturen oder religiöse Gemeinschaften mehr als andere betreffe“. Man gehe den Anzeigen nach.
Papst Benedikt scheiterte an Aufarbeitung
Geistliche wurden vom Dienst suspendiert oder „weggeschickt“. Einige weibliche Glaubensgemeinschaften wurden aufgelöst oder stünden kurz vor der Schließung. „Muss man mehr dagegen tun? Ja. Haben wir den Willen dazu? Ja“, gibt sich Franziskus entschlossen.
„Der Umgang mit dem Thema Missbrauch wird später einmal ausschlaggebend, wie das Pontifikat von Papst Franziskus bewertet wird. Das dürfte er spüren“, sagt eine Vatikanbeobachterin. Vorgänger Benedikt scheiterte bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen an den internen Widerständen, Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen.
Kultur des Schweigens
Die Vatikan-Zeitung L'Osservatore Romano kritisierte kürzlich, dass die Kirche dieses Problem immer noch ignoriere. Missbrauch hänge generell mit der Struktur der Kirche zusammen, in der sich die Macht ausschließlich in Männerhänden befinde. Die Internationale Vereinigung von Generaloberinnen, die weltweit 500.000 Ordensschwestern vertritt, beklagte eine „Kultur des Schweigens“. Sie ermutigte Frauen in religiösen Gemeinschaften, jeden Fall von Missbrauch zu melden.
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