Wenn Deutsch zur Fremdsprache wird

Mathematik-Unterricht in der 1A der Otto-Glöckel-Volksschule
Besuch in einer niederösterreichischen Schule, in der nur noch 14 Prozent der Kinder österreichische Wurzeln haben.

"Vierzehn plus drei". Klassenlehrer Lukas Ankowitsch gibt den 25 Schülern der 1A-Klasse die nächste Rechenaufgabe. Ein Mädchen in der ersten Reihe zählt leise mit ihren Fingern: "bir, iki, üç" flüstert sie konzentriert vor sich hin – eins, zwei, drei auf türkisch. Die Situation spricht Bände. Der KURIER besuchte am Montag die Otto-Glöckel-Volksschule in Wiener Neustadt. Die Schule mit dem höchsten Anteil an Kindern mit fremder Muttersprache in ganz Niederösterreich.

Erstmals gibt es eine Klasse, in der kein einziges Kind mit deutscher Muttersprache sitzt. Insgesamt haben von den 177 Mädchen und Buben 152 (85,9 Prozent) ihre sprachlichen Wurzeln in der Türkei, Afghanistan, Syrien oder in anderen Staaten. 131 Sprösslinge davon sind islamischen Glaubens. "Das Problem wird immer größer, weil natürlich heimische Familien ihre Kinder aus Angst vor mangelnden Bildungschancen in andere Schulen stecken", erklärt Direktorin Ariane Schwarz.

Schuld an dieser Misere hat laut Wiener Neustadts Bürgermeister Klaus Schneeberger (ÖVP) "die gescheiterte Wohnungs- und Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte". In gewissen Stadtvierteln seien dadurch Ghettos entstanden, in denen andere Kulturkreise dominieren.

Trotz des verpflichtendes Kindergartenjahres kommen die Kinder so gut wie ohne Deutschkenntnissen in die Schule, sagt Schwarz. "Unser zweites Problemfeld sind die Eltern. Wir müssen bei den Elternabenden Dolmetscher einsetzen. Wenn es die Eltern nicht lernen, wie sollen dann die Kinder so schnell deutsch sprechen?", sagen Schwarz und Pflichtschulinspektorin Sabine Karl-Moldan.

Wie die Praxis zeigt, sind beispielsweise Flüchtlingskinder aus Syrien weitaus lernfähiger als Kinder vieler türkischer Familien. "Weil die Community so groß ist, dass sie auch in ihrer Freizeit ohne die deutsche Sprache auskommen."

Sprachförderung

An der Otto-Glöckel-Schule ist an einen Unterricht nach dem klassischen Lehrplan nicht mehr zu denken. "Trotzdem arbeiten die Lehrer höchst motiviert, um das beste aus der Situation heraus zu holen", so Karl-Moldan.

Ohne zusätzliche Mittel für gezielte Sprachförderung wird das Problem aber niemals gelöst. Ein Pilotprojekt in einer anderen Brennpunktschule gibt Hoffnung. Dort sitzen im heurigen Schuljahr 16 Kinder insgesamt 13 Stunden pro Woche in einem Deutsch-Förderunterricht mit zwei Lehrkräften. Die ersten Ergebnisse seien vielversprechend: "Wir brauchen aber weitere Mittel des Bundes, um die Angebote zu verstärken", lautet der dringende Appell von nö. Landesschulratspräsident Johann Heuras . Im Zuge des letzten Integrationspakets des Bundes habe Niederösterreich gerade einmal sechs Sozialarbeiter für den Bereich zugewiesen bekommen. "Das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein."

Kostenfrage

Laut Heuras und Schneeberger dürfe bei der Bildung nicht mehr gespart werden: "Die sprachlichen Defizite der Kinder von heute, sind der Nährboden für die Arbeitslosigkeit von morgen."

Dass das Bildungsbudget auch durch Umstände wie die Flüchtlingskrise schwer belastet ist, zeigt ein Beispiel: Damit alle schulpflichtigen Asylwerber in Wiener Neustädter Schulen untergebracht werden konnten, mussten zwölf zusätzliche Lehrkräfte eingestellt werden. Kostenpunkt: Rund 516.000 Euro pro Jahr.

"Im Linzer Stadtzentrum haben wir eine Schule mit Kindern aus 25 Nationen mit 28 Sprachen." Derartige pädagogische Hotspots seien in einigen oberösterreichischen Ballungszentren keine Neuigkeit mehr, sagt der oö. Landeschulratspräsident Fritz Enzenhofer.

200.000 Schüler werden in Oberösterreich in 978 Schulen unterrichtet. In den Neuen Mittelschulen ist die Zahl der Schüler mit nicht deutscher Muttersprache in den vergangenen Jahren um rund acht Prozentpunkte auf 26,8 Prozent angestiegen; auch in den oö. Volksschulen liegt der Anteil bei 26,8 Prozent.

Mit Situationen, in denen Kinder den Anweisungen ihrer Lehrer nicht folgen können, müsse in den Schulen häufig und individuell umgegangen werden, sagt Enzenhofer. Dass die Mittel für die spezielle Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund vom Bund aufgrund eines alle vier Jahre erhobenen Indexes erfolge, führt laut Enzenhofer zu Unschärfen und Irrtümern. So habe eine englischsprachige Schule für Kinder von Wirtschaftsmanagern extrem hohe Zuschläge für sprachliche Förderung erhalten.

Aktuell bemühe man sich in Oberösterreich massiv darum, dass in den Schulen Deutsch als Umgangssprache permanent gepflegt werde, sagt der Landesschulratspräsident und meint damit die politisch höchst umstrittene Deutschplicht in den Pausen.

Steiermark

Die steirischen Zahlen sind ebenfalls deutlich: Rund 72.000 Kinder besuchen derzeit eine Volks- oder Neue Mittelschule, 17 Prozent haben eine andere Muttersprache als Deutsch. Im Vergleich zum Schuljahr 2015/’16 ist das ein Plus von 1,7 Prozentpunkten.

Im Ballungszentrum Graz sind die Anteile erwartungsgemäß anders: Von 13.000 Volksschul- und NMS-Kindern haben 43,8 Prozent nicht Deutsch als Muttersprache (plus 2,5 Prozentpunkte). Auch innerhalb der Grazer Stadtbezirke klaffen die Werte extrem auseinander, nämlich zwischen 14 Prozent (Mariatrost) und 92 Prozent (Lend, Gries). Wobei die Definition über die Muttersprache wenig Aussagekraft hat: Auch wenn ein Kind perfekt Deutsch spricht, fällt es laut Gesetz erst nach sechs Schuljahren aus der Definition mit "nicht deutscher Muttersprache" heraus.

Eine jener Schulen aus dem Bezirk Gries ist die Volksschule St. Andrä. 163 Kinder sind dort eingeschrieben, nur eines hat Deutsch als Muttersprache. Mehr als 20 Nationen vertreten die Kleinen, ihre Muttersprachen sind entsprechend vielfältig, von Türkisch bis Kroatisch. Dass es so viele unterschiedliche Sprachen sind, ist in St. Andrä schon wieder ein Vorteil: Das verbindende Element ist nämlich Deutsch. "Jedem hier ist bewusst, dass es eine gemeinsame Sprache gibt", sagt Direktor Alexander Loretto.

In Wien wissen zwar die Schulkinder, dass sie Deutsch lernen und sprechen müssen, die Eltern aber offensichtlich nicht. "Eltern, die seit zwanzig, dreißig Jahren in Österreich leben, sprechen oft kein Deutsch, Mütter können oft nicht einmal lesen", sagt Andrea Walach, Direktorin der Neuen Mittelschule Gassergasse im 5. Bezirk in Wien. Zu Elternsprechtagen würden daher oft große Brüder oder Schwester geschickt werden, doch sie sind nicht auskunftsberechtigt.

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