Schockstarre nach der Flucht: „Ich will heim, aber das geht nicht“

Schockstarre nach der Flucht: „Ich will heim, aber das geht nicht“
Die ukrainische Psychotherapeutin Inna Gavryliuk über das Burn-out ihrer Landsleute und das Wesen von Wladimir Putin.
Von Uwe Mauch

Sie hat in der Ukraine höchst erfolgreich und international sehr gut vernetzt als Psychotherapeutin und Supervisorin gearbeitet. Bis der Krieg Kiew traf. Früher als andere verließ Inna Gavryliuk die Stadt, sperrte ihre Wohnung zu, um mit ihrer Mutter für ein paar Tage in ihr Haus aufs Land zu fahren und nach einem Tag festzustellen: „Hier sind wir auch nicht sicher.“

Mit ihrem Auto flüchtete sie daher zu ihrer Tochter nach Wien, die hier studiert. Binnen weniger Tage legte sie für ihre Mutter und sich die Basis für ein neues Leben. Seit einer Woche besitzt sie auch in Wien einen eigenen Wohnungsschlüssel.

KURIER: Frau Gavryliuk, wie geht es Ihnen persönlich?

Gavryliuk: Die Antwort ist mehrschichtig: Auf der einen Seite fühle ich mich hier und jetzt sicher, aber gleichzeitig fühle ich mich nicht sicher. Weil mein Land, die Familie, meine Freunde, Kollegen angegriffen werden. Jeden Tag wache ich auf und checke, ob mein Haus und meine Kiewer Wohnung getroffen wurden.

Gibt es im Ukrainischen ein Wort für Ihren Zustand?

Zavmerty. Ich würde es mit Schockstarre übersetzen. Ich will heim, aber das geht nicht. Je länger ich jedoch hierbleibe, umso schwieriger wird dann die Rückkehr. Dieser Gedanke berührt mich tief in meinem Innersten.

Sie haben in Wien Kontakt zu vielen Landsleuten geknüpft. Wie geht es diesen?

Viele sind rastlos. Sind ständig am Laufen, können nicht innehalten, durchatmen, nicht entspannen, suchen nach neuer Orientierung, sorgen sich, keine Wohnung, keine Arbeit zu finden, sind sehr gestresst wegen des Papierkrams, haben Angst, dass ihren Liebsten in der Ukraine etwas zustößt. Ich habe schon Leute gesehen, die unter dieser Last zusammenbrechen.

Täuscht der Eindruck, dass es die gut Ausgebildeten nach Österreich schaffen?

In den meisten Fällen stimmt das. Es sind jene gekommen, die ein wenig Geld haben, und die Know-how für das Wegfahren besitzen. Wir haben auch alle sehr genau gewusst, wohin wir uns begeben. Seit dem Wegfall unserer Visapflicht für die EU im Jahr 2016 war ich zum Beispiel schon fünf Mal in Österreich.

Wie können wir helfen?

Also zunächst möchte ich eines sagen: Ihr macht das großartig. Allerdings: Für Menschen wie mich, die gewohnt sind, selbst zu helfen, die bisher ein selbstbestimmtes Leben geführt haben, ist es nicht leicht, all diese Hilfe anzunehmen. Für mich ist das neu, dass man mir etwas nachlässt. Ich muss lernen, Hilfe auch anzunehmen.

Gut, das sind Sie. Aber wie geht es anderen im Exil?

Am schwierigsten ist es für Mütter mit Kindern ohne Sprachkenntnisse. Sie sind getrennt von ihren Männern, benötigen mehr Verständnis. Sie fühlen sich hilflos, haben Probleme, sich mit der neuen Situation zurechtzufinden. Schwierig ist es aber auch für ältere Menschen. Nehmen Sie meine Mutter: Sie hat bis vor Kurzem als Co-Eigentümerin einer Firma gearbeitet, stand mit beiden Beinen im Leben. In Wien hat sie ihren Kompass völlig verloren. Für beide Gruppen müssen wir möglichst schnell Angebote schaffen, die wieder ein soziales Leben erlauben. Ein Problem, das ich noch sehe: Wir Ukrainer kennen das nicht, soziale Hilfe vom Staat. Daher beantragen wir sie auch nicht.

Sie sprechen drei Sprachen, könnten sofort helfen, akute Traumata zu behandeln. Die Frage ist nur: Erlaubt Ihnen das Österreich eigentlich?

Offiziell nicht. Ich habe meine Firma in der Ukraine, weiß aber nicht, wie ich hier legal arbeiten kann. Ich will auch nicht alles freiwillig machen. Immerhin möchte ich möglichst bald mein Leben wieder alleine finanzieren.

Wie geht es Ihren Liebsten in der Ukraine?

Meine Verwandten sind alle in Kiew. Wir telefonieren jeden zweiten Tag. Sie sind OK, aber niemand weiß, wie es morgen sein wird. Es gibt Probleme mit Medikamenten. Aber irgendwie werden wir das schon schaffen.

Woher nehmen Sie diesen Optimismus?

Wir haben im Laufe der Geschichte zu überleben gelernt. Ein dänischer Kollege meinte einmal zu mir: Wenn wir Überlebensstrategien benötigen, dann erkundigen wir uns bei euch Ukrainern. Nach der Revolution 2014 haben wir auch eine völlig neue Form der Selbstorganisation entwickelt, eine Art Lifestyle mithilfe von Social Media. Wir diskutieren auch nicht ewig, ob wir uns gegenseitig helfen. Wir tun es einfach.

Haben Sie vor einem Monat damit gerechnet, in Wien eine Wohnung zu beziehen?

Nein, noch am Vorabend der Invasion habe ich immer noch gehofft, dass es nicht passieren wird. Erst Ende Dezember bin ich in meine neue Wohnung eingezogen.

Mussten Sie wegen des Kriegs mit Freunden brechen?

Ich bin sehr dankbar, dass ich das nicht musste. Ich habe aber für mich entschieden, nicht lange über den Krieg zu diskutieren. Um mich selbst zu schützen. Ich habe einige Freunde und Klienten in Russland, das sind normale Leute. Ihnen sage ich schon, dass sie mitverantwortlich sind für diesen Krieg. Nichts zu tun ist auch was zu tun. Ich kann da nicht neutral sein, als Therapeutin kann ich meine Gefühle nicht abkappen.

Was sieht die Therapeutin in Wladimir Putin?

Macht verdirbt – und unbegrenzte Macht noch mehr. Das ist auch die Tragödie der Revolution von 1917: Man hat den Menschen damals ihre Verantwortung entzogen. Man hat ihnen erklärt: Wir regeln das alles für euch, aber ihr fragt nicht nach. Putin hat das alte Narrativ wieder aufgegriffen, und viele Menschen in Russland folgen ihm jetzt. Was uns von ihnen unterscheidet: Wir kämpfen nicht für Selenski, sondern für unsere Werte und unsere Würde. Aber zurück zu Ihrer Frage: Er ist ein Psychopath.

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